Michael Heine, Hansjörg Herr
Das Eurosystem: Eine paradigmenorientierte Darstellung und kritische Würdigung der europäischen Geldpolitik
Auftragsstudie der GUE/NGL-Fraktion des Europäischen Parlaments, Abschnitt 3.4
Februar 2001
Manuskripte 13

Geldpolitische Instrumente der Europäischen Zentralbank

Die Macht der Zentralbank beruht letztlich darauf, dass, vermittelt über die Geschäftsbanken, Zentralbankgeld nachgefragt werden muss. Diese Nachfrage speist sich aus zwei Quellen. Erstens sind Kreditinstitute verpflichtet, bei der Zentralbank Mindestreserven zu hinterlegen. Demnach müssen sie für bestimmte Verbindlichkeiten, die sie gegenüber Einlegern eingegangen sind, Guthaben bei der EZB in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes halten. Dieser beläuft sich seit einiger Zeit auf zwei Prozent. Die Mindestreserven werden von der EZB verzinst, um den Banken im Währungsgebiet keine Wettbewerbsnachteile gegenüber Banken in anderen Währungsgebieten ohne Mindestreservezwang zuzumuten. Um überhaupt Guthaben als Mindestreserven hinterlegen zu können sind Banken somit zur Geldnachfrage bei der Zentralbank gezwungen. Zweitens wollen Wirtschaftssubjekte – trotz Scheckkarten und elektronischem Geld – zuweilen bar bezahlen. Zur Überraschung einiger Beobachter spielt in den letzten Jahrzehnten insbesondere bei internationalen Reservewährungen die Bargeldhaltung wieder eine zunehmende Rolle, was auf den kriminellen Sektor und Parallelwährungssysteme in Ländern mit instabilen Währungen zurückzuführen ist. Dadurch müssen die Geschäftsbanken immer mit Barabhebungen rechnen, so dass sie Zentralbankgeld vorrätig haben müssen. Auch diese Notwendigkeit führt zur Nachfrage nach Zentralbankgeld seitens der Banken. Zudem bedürfen Banken Zentralbankgeld zur Rückzahlung von Krediten seitens der Zentralbank. Ist Bargeld an das Publikum abgeflossen, können sie Kredite nur bedienen, wenn sie von der Zentralbank zuvor neue Kredite bekommen.

Zentralbankgeld entsteht grundsätzlich durch ein sogenanntes Aktivgeschäft der Zentralbank. Danach müssen die Geschäftsbanken der Notenbank öffentliche und private Schuldtitel wie Wertpapiere oder Handelswechsel als Pfand hinterlegen oder als Eigentum übertragen, um Geld zu erhalten. Welche Sicherheiten akzeptiert werden, also welche Wertpapiere refinanzierungsfähig sind, bestimmt die Zentralbank. Nach einer festgelegten Zeit – meistens nach zwei Wochen – haben die Kreditinstitute das geliehene Geld plus Zinsen zurückzuzahlen und erhalten im Gegenzug ihre Sicherheiten zurück. An die Stelle von Wertpapieren können bei der Geldentstehung und -vernichtung auch Devisen treten, d. h. die EZB kauft Devisen an und verkauft sie zu einem festgelegten Zeitpunkt wieder an die Geschäftsbank. Diese Operation ist ein Devisenswapgeschäft. Die von der Zentralbank verlangten Zinssätze werden häufig als Refinanzierungszinssätze bezeichnet. Durch die kurzen Laufzeiten ihrer allermeisten Kredite sind die Geschäftsbanken immer wieder gezwungen, Geld bei der Zentralbank  nachzufragen, so dass die Zentralbank sie ”an der kurzen Leine” führen kann. Zur Geldemittierung bedient sich die EZB sowie alle modernen Zentralbanken verschiedener Instrumente, von welchen die sogenannten Offenmarktgeschäfte die wichtigsten sind. Der Name deutet die Geschichte dieses geldpolitischen Instruments an: Ursprünglich wurden so Käufe und Verkäufe von Wertpapieren an der Börse benannt. Heutzutage werden die refinanzierungsfähigen Wertpapiere üblicherweise beliehen (sie dienen also als Pfänder) oder von der Zentralbank mit einer Rückkaufsvereinbarung durch die Geschäftsbanken ”gekauft”. Im
zweiten Fall handelt es sich um ein sogenanntes Pensionsgeschäft – die Zentralbank nimmt die Wertpapiere eine Zeit lang in Pension. In allen Fällen verlangt die Zentralbank eine Verzinsung ihres Geldes. Solche Geschäfte schließt die EZB nur mit Geschäftsbanken ab. Von besonderer Bedeutung im Rahmen der Offenmarktgeschäfte ist das ”Hauptfinanzierungsinstrument”
(Haupttender), da mit diesem Instrument der größte Teil des Geldes emittiert und der Leitzinssatz festgelegt wird. Diese Operationen werden üblicherweise wöchentlich auf Initiative der Zentralbank hin durchgeführt. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten der Geschäftsabwicklung. Im ersten Fall nennt die Zentralbank den Zinssatz (bzw. bei Devisenswapgeschäften
den Swapsatz), zu dem sie ihr Geld zur Verfügung stellen möchte, und die Geschäftsbanken nennen die Beträge, die sie zu diesem Zinssatz gern hätten. Übersteigt die Nachfrage der Kreditinstitute den von der EZB angestrebten Zuteilungsbetrag, so werden die Gebote der Geschäftsbanken anteilig bedient. Hier handelt es sich um einen ”Mengentender”.

Während die EZB zunächst das Mengentenderverfahren angewandt hat, ist sie seit einiger Zeit auf den ”Zinstender” umgestiegen. Der Grund war, dass die Geschäftsbanken sehr hohe Gebote abgegeben haben, so dass die Zuteilungsquote immer geringer wurde. Beim Zinstenderverfahren müssen die Geschäftsbanken nicht nur die gewünschte Geldmenge, sondern auch die Zinssätze nennen, zu denen sie bereit sind, das Geld aufzunehmen. Nun kann die Zentralbank den Geschäftsbanken das Geld nach einem einheitlichen Zinssatz zuteilen (holländisches Verfahren) oder zunächst das höchste Zinsangebot bedienen, dann das zweithöchste usw., bis die erwünschte Zuteilungsgrenze erreicht ist (amerikanisches Verfahren).

Neben den Hauptfinanzierungsgeschäften existieren noch längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit einer Laufzeit von drei Monaten, Feinsteuerungsoperationen und strukturelle Operationen, auf deren Darstellung hier verzichtet werden soll, da dadurch keine grundsätzlich anderen Aspekte der Geldschöpfung und der Arbeitsweise von Notenbanken entstehen würden.
Wichtig für das Verstehen der Geldpolitik der EZB sind allerdings die sogenannten ständigen Fazilitäten. Hier wird zwischen ”Spitzenrefinanzierungsfazilitäten” und ”Einlagefazilitäten” unterschieden. Durch die Einlagefazilität haben die Kreditinstitute die Möglichkeit, Guthaben bis zum nächsten Geschäftstag bei der EZB zu einem von der EZB zu zahlenden, festgelegten
Zinssatz zu ”parken”. Sofern also eine Geschäftsbank am Abend überschüssige Liquidität hat, kann sie dieses Geld entweder anderen Geschäftsbanken leihen, die ”knapp bei Kasse” sind, oder es bei der EZB über Nacht anlegen. Der Zinssatz für diese Einlagen liefert somit die untere Grenze für Interbanken-Geldgeschäfte, da keine Geschäftsbank, die Geld verleihen
möchte, einen niedrigeren Zinssatz akzeptieren wird als jenen, den ihr die EZB zahlt. Damit kann die EZB nach unten zumindest die kurzfristigen Zinssätze direkt steuern. Der Zinssatz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität liefert die obere Begrenzung. Denn wenn Kreditinstitute in Liquiditätsengpässe geraten, können sie sich auch außerhalb der Hauptfinanzierungsgeschäfte
kurzfristig Geld bei der Zentralbank besorgen. Für diese Form der Kreditgewährung durch die EZB gibt es keine Höchstgrenzen, sofern hinreichende Sicherheiten geboten werden können. Dadurch garantiert die EZB dem Finanzsektor eine stets ausreichende Geldversorgung, was auch ihrer Funktion als Lender of Last Resort entspricht. Allerdings sind diese Kredite teurer als die sonstigen Zentralbankkredite. Sie begrenzen die Zinsspanne nach oben, weil auch bei Liquiditätsengpässen keine Geschäftsbank bereit ist, einem anderen Kreditinstitut höhere Zinssätze zu zahlen als die von der EZB verlangten, da sie sich
dort jederzeit verschulden kann. Mit dem Zinssatz für Einlagefazilitäten und dem für Spitzenrefinanzierungsfazilitäten schafft die EZB einen Zinskorridor, der die Zinsschwankungen auf dem Interbanken-Geldmarkt eng begrenzt.

Da die Geschäftsbanken auf Zentralbankgeld unter keinen Umständen verzichten können, kann die Zentralbank ihre Refinanzierungszinssätze grundsätzlich beliebig weit erhöhen, ohne dass sich die Geschäftsbanken letztlich dagegen wehren könnten. Die Geschäftsbanken ihrerseits erhöhen bei einer Kreditvergabe diesen Refinanzierungszinssatz um die Kosten des
Bankbetriebs, eine Gewinnmarge und eine Unsicherheitsprämie. Damit steuern Zentralbanken das Zinsniveau einer Volkswirtschaft; sie können die Geschäftsbanken veranlassen, Geldgeschäfte zu steigenden oder sinkenden Zinssätzen anzubieten. Grundsätzlich sind Zentralbanken so z. B. in der Lage, die Verleihzinsen der Geschäftsbanken nach oben zu treiben und damit die Nachfrage vor allem nach Investitionsgütern, aber auch nach langlebigen Konsumgütern wie Privathäuser, Autos etc. zu drosseln und schließlich eine konjunkturelle Rezession einzuleiten.

Diese Zinssatzsteuerung gelingt den Zentralbanken sehr gut im kurzfristigen Bereich. Schwieriger ist diese Steuerung für langfristige Kreditlaufzeiten. Allerdings vermag die Zentralbank – mit einer gewissen Zeitverzögerung – auch die Zinssätze im Langfristbereich nach ihren Wünschen zu beeinflussen. Falls sie nämlich ihre Refinanzierungszinssätze erhöht, steigen die Zinssätze im Interbankenbereich schnell und zuverlässig. Dadurch entsteht für die Geschäftsbanken ein Interesse, sich vermehrt Geld von den Haushalten zu leihen, so dass auch der Zinssatz für kurzfristige Termingelder steigt. Dadurch wächst die Zinsdifferenz zwischen kurzfristigen Termingeldern und den noch immer zinsgünstigen längerfristigen Anlagen. Durch den Versuch der Geschäftsbanken, diese Gelder anzuwerben, steigen schließlich auch die Zinssätze in diesem Bereich. Die ursprüngliche Erhöhung der Refinanzierungszinssätze der Zentralbank hat sich durch die skizzierten Arbitrageprozesse auch im langfristigen Bereich niedergeschlagen.