Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eineseuropäischen Buddhisten - Stand 23.4.2022

Szene 109 – Die Sache mit dem Fahrrad (1992)


Im Abschnitt „Die zweite Warnung“ (Szene 108) habe ich beschrieben, wie ich von einer äußeren Macht (meinem Schutzengel?), aufgefordert wurde, nicht mehr alkoholisiert zu fahren. Mir war klar, dass es maximal drei Warnungen gäbe, bevor die Sache tödlich enden würde. Und nach der zweiten Warnung hatte ich mir vorgenommen, mich nie wieder betrunken ans Steuerrad zu setzen. Wohlgemerkt, ans Steuerrad, ich hatte nicht „an die Lenkstange“ gesagt. Das wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Obwohl ich in dieser Zeit viel mit dem Rad fuhr. Ja, ich war gerade in einer Phase der Neuorientierung. Ich war kurz zuvor vom Fraktionsvorsitz der Kreistagsfraktion zurückgetreten. Ich hatte mich an die Szene 001 dieser Reihe erinnert und gerade begonnen, mich als „Der Mensch“ zu bezeichnen und kurz darauf sollte ich dem Buddha begegnen (vgl. Szene 008).

Aber ich sprach noch immer gerne dem Alkohol zu. Und so hatte ich mich mit meinem Freund Roland verabredet, dass wir gemeinsam mit seiner Tochter und meinem Sohn, die beide an gleichen Tag geboren und damals 9 Jahre alt waren, eine Fahrradtour entlang der Tauber (Weingebiet „Badisches Frankenland“) machen wollten. Gesagt getan. Am zweiten Tag kamen wir nach Bad Mergentheim, wo es auf einem Berg einen Tierpark gab. Ich war dort schon früher mit meinen Töchtern gewesen.

Mein Sohn hatte im Jahr zuvor Radfahren gelernt und wir waren danach schon auf zwei großen Radtouren gewesen, im letzten Jahr zusammen mit meiner Tochter Steffi von Hanau nach Wien und im letzten Herbst nur mit meinem Freund Zorilla (meinem Sohn) von Hanau nach Basel. Jetzt aber hatten wir uns neue Räder gekauft. Ich hatte erstmals eines mit vielen Gängen (21?), was automatisch bedeutet, dass es keinen Rücktritt hat, sondern Scheibenbremsen. Außerdem hatte ich erstmals wieder einen Tacho an meinem Rad.

Wir fuhren also an diesem heißen Tag auf den Berg mit dem Tierpark. Ich beherrschte allerdings die Sache mit der Gangschaltung nicht richtig, vermutete, da müsse ein Fehler in der Schaltung sein, jedenfalls war es ungeheuer mühsam, aufwärts zu radeln. Oben im Tierpark angekommen war ich total geschafft und durchgeschwitzt. Da ich die Sache mit den Tieren schon kannte, sagte ich den anderen, sie sollen sich das allein ansehen, ich würde solange in der Kneipe des Tierparks warten.

Das tat ich auch, und das erste Bier zischte herrlich. Ich kalkulierte, dass die anderen anderthalb bis zwei Stunden brauchen würden, also konnte ich so drei bis vier Halbe trinken. Das tat ich dann auch; anderthalb Stunden waren inzwischen herum als das vierte Bier getrunken war. Eigentlich hat so ein Bier ja verdammt viel Flüssigkeit, ich spürte das viele Bier in meinem Körper. So viel Flüssigkeit war gar nicht gut. Außerdem war das ja ein Weinbaugebiet. Und in spätestens einer halben Stunde würden die anderen kommen, da könnte ich doch noch ein Viertelchen Wein...

Der Wein schmeckte herrlich, ganz anders als dieses wässrige Bier. Gleich sind die zwei Stunden herum, die sie maximal brauchen, ach, ein Wein wird schon noch gehen. Sie kamen aber nach zwei Stunden nicht. Na, dann eben noch ein Viertelchen. Nach dem vierten Viertelchen fragte ich mich, ob es nicht klüger sei, eine Kleinigkeit zu essen, ein Käsebrot oder so. Andererseits war mein Bauch noch voll von dem ganzen Bier und inzwischem dem Wein, da passt bestimmt nicht noch Nahrung hinein! Also lieber noch ein Viertelchen, das drückt sich schon noch rein, ist ja so lecker. Es blieb nicht bei diesem Viertelchen. Die anderen ließen sich Zeit. Als sie kamen, hatte ich Mühe sie zu erkennen. Ich schwankte Richtung Fahrrad. Roland sah mich an: „Naja, das könnte durchaus noch gut gehen.“

Wir stiegen auf. Was hatte ich aufwärts so geschwitzt! Und jetzt einfach abwärts, der Wind sauste mir um die Ohren. Ich blickte auf den Tacho: 40. Als Schüler hatte ich es auf dem Viadukt bergab mit treten auf 60 geschafft, ob das hier auch ging? Ich trat in die Pedale. Wir waren auf einem asphaltierten Waldweg, ich glaubte es gäbe hier keine Autos, ist ja ein Waldweg. Da vorn eine Linkskurve, der Tacho jetzt auf 57. Bremsen? Die 60 wollte ich schon noch schaffen, wie vor 30 Jahren! Wenn ich die Kurve schneide, ganz links ansetze müsste das möglich sein.

Das war das letzte, woran ich mich erinnern konnte. Und es dauerte über 10 Jahre, bis die Erinnerung an das, was kurz vor dem Unfall geschah, wieder kam. Ich schnitt die Kurve wie geplant – doch völlig ungeplant kam ein PKW entgegen. Instinktiv trat ich das Pedal rückwärts – doch es gab keinen Rücktritt! Handbremsen, so hatte ich von Kind auf gelernt, darf man bei hoher Fahrradgeschwindigkeit nicht benutzen, sonst überschlägt man sich. Ich war schockiert, wusste nicht was ich machen sollte. Kein Film lief vor meinem geistigen Auge ab (wie beim „Blick in die Zukunft“ - Szene 107). Ich hörte auch keinen Befehlston (wie bei der „Zweiten Warnung“, Szene 108). Ich war ganz allein und hilflos, als mein Fahrrad mit 63 km/h gegen die Stoßstange des Autos donnerte. Ich war allein und hilflos, als das Fahrrad und ich über das Auto flogen. Und ich war allein und hilflos (auch ohne Helm), als sich mein Gesicht hinter dem Auto in den Asphalt bohrte, als meine Zähne brachen, als mein Nasenbein zerbrach, als der Oberkiefer angebrochen wurde.

Ich wurde von Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht und zusammengenäht, mein Gesicht war dick geschwollen, blau und grün und mit Wunden übersät. Am nächsten Morgen bestand ich – noch immer total benebelt – darauf, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden.

Doch das Schlimmste kam erst noch in den folgenden Wochen. Ich hatte weite Teile meines Gedächtnisses verloren, war hilflos. Zum Glück waren gerade die Osterferien.

Ich erinnere mich, wie ich zum Arzt ging. Ich war auf der Großauheimer Hauptstraße, es war ziemlich viel Verkehr. An einer Stelle war die Straße mehrfach durchgestrichen. „Sicher ist da das Betreten verboten“, dachte ich und machte einen Bogen darum, als ich die Straße überquerte. Der Autofahrer schrie mich an: „Kannste net de Zebrastreife benutze, du ahler Simpel!“ Ich schaute mich um, aha die durchgestrichene Stelle der Straße muss wird wohl „Zebrastreifen“ genannt und man erwartet, das Fußgänger dort zu gehen hätten. Ich begann wieder zu lernen.

Auf dem Rückweg vom Arzt kam ich wieder an eine Stelle mit so komischen Strichen, aber diesmal quer zur Straße. Diese Striche waren aber erhaben und aus Beton. Die haben sicher eine andere Bewandnis. Also ein Zebrastreifen ist das nicht. Am besten, ich warte erst einmal ab, wie andere damit umgehen. "Bimm! Bimm!" Ein Glockenton erklingt und gleichzeitig bewegen sich zwei lange lange stählerne, rot-weiße Arme von oben auf die Straße, unten dran sind Gitter. Jetzt kann man da nicht weitergehen. Ist ja merkwürdig. Und dann kommen auf diesen Betonstreifen, die mit dicken Eisenstangen befestigt sind, ganz viele Wagen, die wie Stübchen aussehen, aneinandergereiht an, die Wagen haben Fenster, drinnen sitzen Leute. Allmählich begriff ich wieder, was eine Eisenbahn war. So schwer war es damals alles erneut zu lernen.

Die erste Woche nach den Osterferien war ich noch krank geschrieben. Dann sagte der Arzt: „Früher oder später müssen Sie wieder hin, ich schreibe Sie nicht mehr krank, sehen Sie einfach, wie Sie zurecht kommen.“ Mir graute davor. Ich wusste inzwischen wieder, dass ich Lehrer war. Ich hatte auch meinen Stundenplan gesehen. Aha, ich war an einem Wirtschaftsgymnasium. Gab es so etwas überhaupt? Ich sah mir alte Unterrichtsvorbereitungen an: Mikroökonomie, mir dämmerte, dass es so etwas zu meiner Zeit an der Uni gab, vor 20 Jahren.

Und dann der erste Tag an der Schule. Alle Lehrer schienen mich zu kennen, aber ich kannte die meisten nicht. Dann ging es in die Klasse, das müsste der erste Raum links nach dem Gebäudeknick sein. Was, wenn der Raum gewechselt wurde, ich kenne ja die Schüler nicht mehr? Gehe ich dann in eine völlig falsche Klasse? Kommt dann heraus, dass ich jetzt ein Idiot bin? Ich komme um den Gebäudeknick. Die Schüler, von denen viele auf dem Boden saßen, stehen auf. Prima, die erkennen mich! Es geht in die Klasse. Ich hatte mir die Kursliste angesehen, die ich immer exakt führe, es müsste also klar sein, was wir als letztes durchnahmen, und was heute drankommt. Ich hatte auch nachgeschaut, wer laut Notenliste die Beste war, und forderte sie auf, nochmal kurz zusammenzufassen, was wir als letztes gemacht hätten, damit wir wieder in den Stoff hereinkommen.

So erging es mir in diesem Wochen, diesem Monaten, es war die Hölle. Und ich glaubte, ich könne mich nicht offenbaren. Ich war noch immer Kreistagsabgeordneter, ich konnte doch nicht zugeben, dass ich besoffen auf den Kopf gefallen war und jetzt nix mehr wusste.

In den nächsten Monaten hatte ich 42 Arzttermine. Doch niemand konnte mir helfen. Man schien im Gegenteil zu glauben, ich simuliere, wolle krankgeschrieben oder frühpensioniert werden. Ein Professor an der Uniklinik schnauzte mich an: „Die Krankheit, die sie schildern, gibt es gar nicht!“

Ich antwortete ihm: „Wenn ich arbeitsuntauglich geschrieben werden wollte, würde ich mir eine Krankheit aussuchen, die sogar sie kennen!“

Nach einem halben Jahr gab ich die Sache mit den Ärzten auf. Ich kam inzwischen gut genug klar, um alleine zurecht zu kommen, aber es sollte noch Jahre dauern, bis ich mich weitgehend genesen fühlte. An das ganze erste Jahr nach dem Unfall habe ich nur bruchstückhafte Erinnerungen. Einige davon habe ich hier beschrieben.

Ich danke meinem Beschützer, dass er (sie?) mich so lange beschützt hat.

Und ich bedanke mich insbesondere dafür, dass mir der Schutz auf so weise Art allmählich entzogen wurde.


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