Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 30.1.2020

Szene 097 - Ratnasambhava in Montana - 2013



Auszug aus meinem Pilgertagebuch während meiner Wanderung Richtung Indien, es war der 96. Tag meiner Wanderung, ich war inzwischen in Bulgarien:

Ein recht kurzer Abschnitt wird das heute, etwa 18 km, aber das Wetter wirkt unbeständig, soeben hat es erste Tropfen geregnet, vorsichtshalber ziehe ich mir die leichte Regenjacke über, die ich mir in Anbetracht des diesjährigen Wetters kurz vor der Abreise noch besorgt habe, ich hoffe, sie unterwegs alsbald ausziehen zu können, denn der Wetterbericht hat für heute eine Regenwahrscheinlichkeit von nur 9 % angegeben.

Zwar kommt es während der ganzen Wanderung nicht zu einem wirklichen Regen - von dem abgesehen, wegen dem ich erst eine Stunde später los gegangen war - jedoch beginnt es immer einmal wieder zu tröpfeln, so dass ich die Regenjacke noch anhabe, als ich in Montana im Hotel einchecke, in dem es den üblichen Komfort zu moderaten Preisen gibt: Einzelzimmer 40 Lewa (20€), Doppelzimmer 45 Lewa. Mitgebrachte Bodhisattvas sind kostenlos. :-)

Im Reigen der Bodhisattwas ist es heute Ratnasambhava, der direkt vor mir ist. Sein Lotusthron wird von den üblichen kraftvollen Pferden getragen. Wobei der Thron trotz des kräftigen Ausschreitens der Pferde keineswegs schwankt, sondern stabil steht wie ein UFO im luftleeren Raum. Die Pferde drehen mir natürlich, da sie vor mir gehen, ihr Hinterteil zu, aber Ratnasambhava selbst schaut meist mit dem Gesicht zu mir, manchmal dreht er sich samt seinem Lotusthron auch zur Seite oder sieht nach vorne. Es dauert einige Zeit, bis ich die Gesetzmäßigkeit hinter diesem Verhalten erkenne: wann immer meine Konzentration nachlässt, wendet er sich (oder ich ihn?) ab.

Ich sehe die kraftvolle Arbeit der Muskeln in den Gesäßen und Oberschenkeln der Rösser, sie erinnern mich an meine Überlegungen, die ich bereits bei der ebenso kraftvollen Figur des Manjusri angestellt hatte und gemahnen mich einmal mehr der Basis meines Erleuchtungsstrebens, meinem Körper, mehr Beachtung zu schenken.

Ratnasambhava hält seine rechte Hand wie üblich in der Geste der Wunschgewährung, während seine Linke geöffnet im Schoße ruht, und in dieser blitzt das wunscherfüllende Juwel in allen Farben schillernd.

Ob ich mir etwas wünschen sollte? Aber was? Ich bin doch eigentlich wunschlos glücklich? Vielleicht doch eher ein Wunsch für andere Wesen, vielleicht für eine mir sehr liebe Person, die in den letzten Jahren allerlei Unglück wie magisch anzieht? Doch mit Wünschen zugunsten Dritter habe ich keine gute Erfahrung gemacht.

Aber nun kommt mir die – glaube ich – angemessene Idee. Fünf Gefahren gibt es nämlich, denen ich auf meiner Pilgerreise ausgesetzt bin: Fahrzeugen, Menschen, Tieren, Krankheiten und Dämonen.

Statt Dämonen konnte man auch sagen: geistige Trübungen, die mich daran hindern, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Das klingt zwar moderner und komplizierter, erhellt die Sache aber auch meines Erachtens nicht besser, aber vielleicht könnt ihr mich so besser verstehen.

Fahrzeuge - oder besser Fahrzeuglenker/innen - sind die augenscheinlichste Gefahr. Ich gehe teilweise auf vielbefahrenen Straßen, mitunter bei Regen und schlechten Sichtverhältnissen, mitunter sind die Fahrzeugführer/innen unachtsam und handyfonieren, mitunter ist auch die Straße kurvenreich und durch Leitplanken gesichert, sodass ich nicht ausweichen kann.

Tiere sind, glaube ich, in diesem Zusammenhang klar, wobei ich auch und gerade die kleineren Spezies bedenklich finde: giftige Spinnen, Mückenschwärme, die bei mir heftige allergische Reaktionen auslösen können, Skorpione aber natürlich auch Schlangen oder Raubtiere.

Krankheiten können einen schwer beeinträchtigen, vielleicht sogar umbringen. Zum Beispiel meine Verdauung reagiert schon auf kleine Störungen sehr heftig, in den wenigen Tagen meiner diesjährigen Wanderung (vier!), habe ich schon zweimal zu Kohletabletten Zuflucht nehmen müssen, wie soll das nur werden, wenn ich erst in hygienisch sehr viel bedenklicheren Ländern bin?

Menschen brauche ich kaum zu erläutern, da wird sich jeder vorstellen können, was da in den noch vor mir liegenden Ländern für Probleme auf mich zukommen können.

Und eben aufgrund dieser fünf Gruppen von Gefahren bat ich den Bodhisattva um die Kraft, beim Eintreffen der jeweiligen Gefahr angemessen zu agieren. Ich bitte wohl bewusst nicht um ein äußeres Eingreifen, sondern um die Kraft zur Selbsthilfe - nehme aber selbstverständlich auch Hilfe von außen (gibt es überhaupt ein Außen?) dankbar an.

Dabei tauchte für mich auch die Frage auf, ob selbst der Abbruch des Vorhabens eine angemessene Reaktion sein kann. Die Antwort, die ich mir gab - oder war es Ratnasambhava? - war die, dass ja. - Aber nur wenn das wirklich angemessen ist. Unangemessen erschiene es mir, das Unterfangen abzubrechen, wenn ich beispielsweise „nur“ ausgeraubt werde. Das ist normales Risiko (ich hoffe, nicht bald unter Beweis stellen zu müssen, dass ich damit so cool umgehen kann). Angemessen erschiene es mir, wenn ich z. B. bei einem Unfall ein Bein verlöre. Pilgerwanderung mit Krücken und Rucksack erscheint mir schwer durchführbar.

Genau an dieser Stellte habe ich dann entschieden, jetzt nicht weitere Möglichkeiten durchzuspielen, sondern mich lieber auf meinen - wie ich fand gut formulierten - Wunsch zu konzentrieren, und auf Ratnasambhava, von dem ich zuletzt nur noch den Rücken - und auch den nur schemenhaft - gesehen hatte.

Apropos schemenhaft: genau wie schon bei meinen früheren Begegnungen mit dieser Figur, verlieren sich die Unterschenkel der Pferdebeine wie im Nebel - also kein spirituelles Hufgeklapper.

Das heutige Wetter schien nicht immer ganz zu Ratnasambhava zu passen, denn seine Himmelsrichtung ist Süden, seine Farbe Gelb und er wird auch gern mit der Sonne in Verbindung gebracht. Muss ich es aber sagen, dass es heute fast die ganze Zeit durch Sonnenblumenfelder ging, die die Ratnasambhavakraft der Sonne gespeichert hatten und nun wieder auszustrahlen schienen?


Die ersten vier Tage meiner diesjährigen Pilgerzeit verliefen landschaftlich weitgehend flach, durch leichtes Hügelland, noch immer im Umfeld einer durch die Donau geprägten Ebene, doch täglich rückt das Balkangebirge näher, türmt sich höher auf, gleichsam als wollte es eine Barriere errichten, ähnlich wie das vor zwei Jahren die Alpen taten. Heute ist Samstag, die nächste Woche wird höhere Herausforderungen an meinen Körper stellen. Es wäre schöner, wenn ich fitter wäre. Danke, Manjusri und euch Pferden von Ratnasambhava, dass ihr mir diese Unzulänglichkeit auf so einsichtige Weise deutlich gemacht habt. Es ist herrlich Freunde zu haben, die einem auch eine unangenehme Wahrheit ins Gesicht sagen können - und sei es ohne Worte.


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