Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 30.1.2020

Szene 096 – Gemüsehändler Heiner Hain - 1956



Dieser Abschnitt berichtet eigentlich nichts über mich, jedenfalls nicht direkt. Ich tauche in der ganzen Geschichte fast überhaupt nicht auf, und es ist eigentlich auch keine Geschichte, sondern so etwas wie eine Milieustudie oder ein Schlaglicht auf eine andere Zeit, auf eine Zeit, die in meinem Empfinden für „die gute alte Zeit“ steht, für die Zeit, in der alles eine Ordnung und Beständigkeit zu haben schien, die vermeintlich heile Welt meiner Kindheit. Und wenn ich oben eine Jahreszahl eingesetzt habe, so ist diese Jahreszahl ziemlich willkürlich gewählt. Es war die Zeit der 50er und 60er Jahre. Ich weiß nicht einmal mehr, wann das Ereignis „Gemüsehändler Heiner Hain“ endete, eines Tages war er nicht mehr da. Mir schien das nicht wirklich aufgefallen zu sein, er war kein wesentliches Bestandteil meiner Welt mehr, ich nehme an, dass sein Verschwinden in die Zeit zwischen 1965 und 1970 gefallen sein muss. Doch wer war eigentlich dieser Gemüsehändler?

Heiner Hain hatte ein kleines Gemüsegeschäft, nur ein Haus von der Großauheimer Hauptstraße entfernt in einem kleinen Gässchen, der Schäfergasse. Aber es war eigentlich kein Haus, sondern ein winziges Häuschen mit einem ebenso kleinen Lädchen, das nicht viel mehr als 10 qm gehabt haben kann. Das Lädchen in dem windschiefen Häuschen – eigentlich mehr einer Kate – hatte eine Tür und daneben ein kleines Schaufenster, keine 2 m breit und sicher nicht viel höher als 1,20 m. Ich war niemals selbst in diesem Lädchen. Ich kann mich auch nicht erinnern jemals jemanden in das Lädchen oder aus ihm herausgehen gesehen zu haben. Ich glaube es war die Frau Hain, die diesen Laden führte, ein kleines Gemüselädchen, wie man es heute wohl nirgendwo in Europa mehr findet, vielleicht nur noch in Asien oder Afrika. Und natürlich hätte das Ehepaar Hain davon nicht leben können. Aber wovon sollte man dann leben? Hartz IV gab es nicht, und als kleine Selbstständige hatten die Hains „nicht geklebt“, also nicht freiwiliig in die Rentenversicherung eingezahlt, wofür man Märkchen bekam, die man in sein Rentenquittungsheft einkleben und so im Alter eine dürftige Rente beziehen konnte. Aber zum „Kleben“ hatte es bei den Hains nie gereicht. Daher machte Heiner Hain das, was damals viele kleine Selbständige taten, er arbeitete weiter, so lange er lebte.

Allerdings nicht in dem winzigen abgelegenen Lädchen, dafür war das Geschäft zu klein. Heiner Hain tat das, was ein guter Unternehmer tut: er passt sich den veränderten Marktbedingungen an, investiert, entdeckt eine Marktnische und führt Innovationen ein – auch wenn er solche Wort wie „Marktnische“, „Innovation“ und „Investition“ sicher nicht kannte.

Sein „Business-Konzept“ war ebenso einfach wie genial. Er kaufte sich einen Kleinlaster, fuhr morgens um 5 h nach Frankfurt zur Großmarkthalle, kaufte Obst und Gemüse ein und tingelte dann durch die Großauheimer Wohnsiedlungen, um seine Ware zu den Leuten zu bringen. Wenn die Leute nicht in sein Lädchen kamen, musste er eben zu den Leuten kommen. Und wenn ich eben geschrieben haben, „er kaufte sich einen Kleinlaster“ muss man aufpassen, dass man nicht an heutige Kleinlaster denkt. Es war vielmehr ein Goliath- Dreirad-Lieferwagen, wie er seit 1949 gebaut wurde, ein LKW mit einem 398-ccm-Motörchen, das immerhin 14 PS leistete.

Das Bild zeigt nicht Heiner Hains Goliath, sondern ein baugleiches Fahrzeug. Die Plane war während der Verkaufsfahrt nach oben gewickelt und dort stand das Obst und das Gemüse. Außerdem war an dem Fahrzeug eine große Glocke. Heiner Hain fuhr die Straßen entlang, z. B. den Auwanneweg, in dem wir wohnten. Etwa alle 3-4 Häuser hielt er an, läutete die Glocke und rief aus „Obst, Gemies, Perrsching“, dann lief meine liebe Großmutter schnell ihre Einkaufstasche und ihre Geldbörse holen und ging heraus „zum Hain“ - ich im Schlepptau. Dort wurde nun das gekauft, was man noch für diesen oder für den nächsten Tag brauchte – nie für länger, denn auf „den Hain“ war Verlass, der würde am nächsten Tag genauso wieder erscheinen, sechs Tage die Woche, 52 Wochen im Jahr, so viele Jahre, wie er leben würde.

(Das Bild rechts zeigt den Auwanneweg, damals noch mit Kopfsteinpflaster, im Jahre 1957, die dicken Autos rechts sind Amischlitten, die US-Soldaten gehörten. Der in der kurzen Hose bin übrigens ich, an der Hand meinen blinden Vater führend, wie wir am Sonntagmorgen - einem alten Ritual folgend - zum Frühschoppen gingen.)

Natürlich hatte der Hain ein relativ beschränktes Sortiment, aber es war möglich, bei ihm für den nächsten Tag etwas zu bestellen. So sagte meine Großmutter beispielsweise: „Ach, Herr Hain, bringe Se mer doch morsche mal e schee Grie Soß mit, awwer ganz frisch. Unn zwei Dutzend Stiefmitterchen, je zur Hälfte blaue und gelwe.“ Dann holte der Hain einen Zettel hervor und notierte sich die Bestellung und – darauf konnte man sich verlassen – am nächsten Tag war das Gewünschte da. Es ist schon erstaunlich wie ein 15-Pfg-Artikel - ein Stiefmütterchen - so geordert und dann vom Händler aus der 20 km entfernten Großmarkthalle direkt frei Haus geliefert wurde. Das ist das, was ich mit „goldene alte Zeit“ meine.

Für den über 70-jährigen Heiner Hain, der nie in Rente gehen oder in Urlaub fahren oder auch nur krank feiern konnte, war diese Zeit allerdings vielleicht ein Ideechen weniger golden.


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