Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 30.1.2020

Szene 091 – Der Volkskammerpräsident und ein Rausschmiss



Im Jahr 1985 waren die Grünen in den Kreistag des Main-Kinzig-Kreises eingezogen, einer dieser sechs Abgeordneten war ich (vgl. Szene 064). Die Kreistagsabgeordneten haben allerdings in der Regel noch einige weitere Aufgaben, nämlich bei allen möglichen Organisationen, bei denen Vertreter des Kreises in ein Greminum gewählt werden. Üblicherweise werden in den ersten Plenarsitzungen nach der Kreistagswahl die Vertreter für alle diese Gremien im Kreis gewählt. Zunächst aber mussten sich die Ausschüsse konstituieren.

Bislang war der Main-Kinzig-Kreis von einer CDU/FDP-Koalition regiert worden, nun gab es eine rechnerische rot-grüne Mehrheit. Da die SPD hoffte mit unseren Stimmen in zwei Jahren einen Sozialdemokraten zum Landrat zu wählen, waren sie bereit uns bei allem möglichen, das sie nicht für bedeutend hielten, entgegenzukommen, auch bei der Besetzung der Ausschüsse. Für uns Grüne war Energiepolitik besonders wichtig, diese war jedoch bislang in den Ausschüssen nicht vertreten, die ließ man die Großkonzerne machen. Von den bestehenden Ausschüssen erschien mir der Ausschuss für Wirtschaft, Verkehr und Raumplanung am interessantesten. Ich hatte Wirtschaft und Geografie studiert, dieser Ausschuss entsprach also meinen Qualifikationen. Daher verlangte ich in unserer Fraktion derjenige zu sein, der in diesen Ausschuss geht, außerdem sagte ich, wir müssten in Verhandlungen mit der SPD durchsetzen, dass deser Ausschuss um das Themenfeld „Energie“ erweitert wurde. Meine Fraktion unterstützte diese Forderungen und bei den Verhandlungen mit der SPD konnten wir auch durchsetzen, dass dies ein Ausschuss für „Wirtschaft, Verkehr, Energie und Struktur“ würde. So wurde es in der ersten Kreistagssitzung beschlossen.

Für die zweite Sitzung stand u. a. die „Wahl der Vertreter/innen der Regional- versammlung“ auf der Tagesordnung. Die Regionalversammlung war ein Parlament auf der Ebene des Regierungsbezirks, und der Regierungsbezirk Südhessen ist sehr groß, er umfasste weit mehr als das Rhein-Main-Gebiet und hatte mehr Einwohner als West- und Ostberlin zusammen. Alle Maßnahmen der Raumplanung, also wo Gewerbe, wo Wald, wo Landwirtschaft, wo Siedlungen und, und, und... ausgewiesen würden, wurde hier beschlossen. Es war in meinen Augen das wichtigste zu besetzende Gremium. Ich erläuterte meiner Fraktion, dass genau das die Strukturfragen seien, mit denen sich der Ausschuss für Wirtschaft, Verkehr, Energie und Struktur zu beschäftigen habe und dass ich daher der geeignete Vertreter für die Planungsversammlung sei, dem konnte sich die Fraktion nicht verschließen. Der Main Kinzig-Kreis wählte sieben Vertreter für dieses Gremium, das bedeutete einen Sitz für die Grünen in der Regionalversammlung, die mit 101 Abgeordneten nur unwesentlich kleiner war als der Hessische Landtag (110 Mitglieder). Und so gehörte ich ab Juni nicht nur dem Kreistag, sondern mit der Regionalversammlung einem zweiten Parlament an. Das Bild zeigt den Tageungssaal der Regionalversammlung im Frankfurter Rathaus "Römer".

In der vergangenen Legislaturperiode hatten die Grünen in der Regionalversammlung noch keine Rolle gespielt, sie hatten nur zwei Abgeordnete, Manfred Zieran (Bild) und Volkmar Schirmer, die außerdem nicht miteinander konnten, da sie von den beiden damals ziemlich verfeindeten Parteiflügel stammten, den sog. „Realos“ bzw. den „Fundis“. In der neuen Regionalversammlung hingegen gab es nunmehr dreizehn grüne Abgeordnete, die alle ziemlich überlastet waren, denn fast alle waren neu in die Parlamente gekommen und mit den vielen zusätzlichen Aufgaben so ausgelastet, dass sie für ihr „Zweitparlament“, die Regionalversammlung kaum Zeit hatten.

Außerdem kannte man sich nicht, alle waren aus unterschiedlichen Kreisverbänden. So wurde festgelegt, dass der Fraktionsvorsitz rotieren sollte - nach jeweils einem halben Jahr. Mir war klar, dass das nicht praktikabel ist, aber das gab Zeit sich kennen zu lernen. Als Fraktionsvorsitzender empfahl sich sofort ein Offenbacher Gastwirt, der dem Realoflügel angehörte, das war den meisten recht, weil sie alle sehr viele andere Aufgaben zu erledigen hatten. Ich bot an, den stellvertretenden Vorsitz zu machen, was auch akzeptiert wurde, ich gehörte keinem der Parteiflügel an. Außerdem wurde die Verteilung auf die Ausschüsse geregelt. Da alle ziemlich eingespannt waren, gab es kein Gedränge um den einzig wichtigen Ausschuss, den Haupt- und Planungsausschuss, für den uns drei Sitze zustanden, für die Fundis kandidierte das Bundesvorstandsmitglied Björn-Uwe Rahlwes, für die Realos Kurt Bayer. Ich sagte, ich könne das auch machen, allerdings flügelunabhängig. Die Fraktion bestätigte uns drei.

Allerdings wurde die konstituierende Sitzung eine ziemlich Katastrophe. Zwar hatten weder CDU noch SPD eine Mehrheit, beide hatten jedoch im Vorfeld eine Absprache für die Geschäftsordnung getroffen, nämlich dass der Raumordnungsplan, also der Fünfjahresplan für Südhessen, mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden müsse, obwohl das Raumordnungsgesetz dies nicht vorsah. Mit anderen Worten: CDU und SPD hatten sich per Geschäftsordnung zu einer Großen Koalition verpflichtet. Also: wir hätten nichts zu melden. Und damit auch alles schön gemauschelt werden konnte, wurden alle wichtigen Entscheidungen in den Haupt- und Planungsausschuss vertragt, die Regionalversammlung selbst sollte erst in acht Monaten wieder zusammentreten um den Regionalplan zu verabschieden. Das roch nach Pseudo-Demokratie und Hinterzimmerpolitik!

Dann trat der neue grüne Fraktionsvorsitzende ans Mikrofon und sagte, Raumplanung sei sowieso nur Gängelung des freien Unternehmertums durch die Staatsbürokratie. Mit anderen Worten, er wollte die Umweltpolitik den Konzerninteressen unterordnen. Wir trauten unseren Ohren nicht. Auch die Realos in der Fraktion konnten da nicht klatschen, um so mehr aber die Abgeordneten von CDU, FDP und SPD und auch der NPD-Vertreter.

Leider bestätigte sich unser Verdacht, dass SPD und CDU alles Entscheidende unter der Hand regeln wollten. Statt die Besprechungen in den Ausschüssen vorzunehmen, gab es sog. Vorabstimmungsrunden, wo Vertreter der einzelnen Parteien, vor allem Bürgermeister, sich trafen. Die Absprachen erfolgten nach dem Motto: ich gebe dir dein neues Siedlungsgebiet auf der grünen Wiese, wenn du meinem neuen Industriegebiet zustimmst. Zwar hieß es, auch wir wären herzlich zu den Abstimmungen eingeladen. Da wir jedoch keine Berufspolitiker waren und das Freistellungsgesetz von der Arbeit nur für Plenarsitzungen und Ausschusstermine galt, hatte man sichergestellt, dass jeweils drei Sozis, drei CDU-Leute und einer von der FDP die Raumordnungspolitik unter sich ausmauschelten.

Ende 1986 war Fraktionssitzung. Ich stellte fest, dass ein halbes Jahr seit der Konstituierung der Regionalversammlung vergangen war und somit im Fraktionsvorsitz zu rotieren sei. Zwar gab es in dieser Zeit nur eine einzige Sitzung, was zeigte, wie unsinnig diese Regelung war, aber keiner wollte, dass sich das Trauerspiel mit einer neuen Rede des Offenbacher Gastwirts fortsetzte, so wurde ich Ende 1986 Fraktionsvorsitzender in der Regionalversammlung und blieb dies bis zu meinem Ausscheiden aus diesem Gremium 1995.

Am 28. Februar 1986 war die nächste Plenarsitzung der Regionalversammlung, an diesem Tag stand die Verabschiedung des Raumordnungsplanes auf der Tagesordnung. Im Vorfeld war den Entwurf dieses Planes in allen Rathäusern offengelegt wurden, BürgerInnen konnten ebenso Einwände erheben wie Organisationen. Über 3000 Einwände waren eingegangen. Der Regierungspräsident – nicht die Person, sondern die Behörde – hatte diese geprüft und eine eigene Stellungnahme zu den Einwänden abgegeben, am Schluss stand ein Vorschlag des RP: der Einwand wird zurückgewiesen oder aber dem Einwand wird stattgegeben. Über diese Beschlussvorlagen hätten nun die Ausschüsse abstimmen sollen und diese Ausschussempfehlungen sollten die Grundlage der Abstimmung im Plenum sein.

Da jedoch in den Mauschelrunden zuvor die Funktionäre der drei Parteien CDU, SPD und FDP alles ausgehandelt hatten, kam in den Ausschüssen nur noch eine Liste zur Abstimmung, in der das Ergebnis zu den einzelnen Drucksachen aufgelistet war: alles wird zurückgewiesen außer folgenden Anträgen. Da die Ausschusssitzungen im Halbstundentakt terminiert waren, war es auch gar nicht möglich zu den einzelnen Enwänden Stellung zu nehmen.

Wir hatten nun für die entscheidende Plenarsitzung am 28. Februar 1986 über 500 Änderungsanträge vorbereitet und jeweils mit einer Begründung versehen. Vor Beginn der Sitzung hatten wir drei Änderungsanträge eingereicht, die anderen wollten wir peu á peu nachreichen.

Zum ersten Änderungsantrag erhielt ich das Wort, es ging um zwei Einwände, die ich selbst während der Offenlegung abgegeben hatte: erstens hatte ich die geplante Verlegung des Großauheimer Bahnhofes abgelehnt, weil dieser dann außerhalb des Ortsgebietes läge und dadurch für die Leute schlechter zu erreichen sei. Zweitens hatte ich die Bebauung der Großauheimer Waldwiese, ein seltenes Biotop, abgelehnt.

Ich wies darauf hin, dass mein Antrag auf Streichung der Verlegung des Großauheimer Bahnhofs befürwortet würde, da die Bahn diese Verlagung selbst nicht mehr anstrebte. Andererseits sei mein Antrag auf Streichung der Bebauung der Waldwiese abgelehnt worden mit der Begründung, dies mache besonderen Sinn, da der Großauheimer Bahnhof dorthin verlegt werden solle. Da diese Begründung im Widerspruch zur gleichzeitig erfolgten Streichung des Bahnhofes stünde, sei auch die Bebauung der Waldwiese abzulehnen, so verlangte ich logischerweise. Es entstand ziemliche Unruhe. Mein nächster Antrag beschäftigte sich mit den Hanauer Nuklearbetrieben, jetzt gab es erhebliche Unruhe. Die Abgeordneten waren von einer Sitzungsdauer von 15-20 Minuten ausgegangen, wofür sie das volle Sitzungsgeld kassierern würden, zusätzlich zu dem Sitzungsgeld für eine viertelstündige Fraktionssitzung vorher, macht 150 DM zuzüglich Fahrtkostenerstattung fürs schnelle Handheben, aber plötzlich wurde inhaltlich diskutiert. Inzwischen brachten meine KollegInnen weitere Anträge zum Präsidium.

Der Vorsitzende der Regionalversammlung wurde nervös. Er verstieg sich dazu folgenden Antrag zu stellen: „Alle Anträge, die heute hier von den Grünen eingebracht wurden oder möglicherweise noch eingebracht werden, werden ohne Diskussion abgelehnt.“ Damit war der Sinn des Parlamentarismus, das Parlieren, das Diskutieren, der Austausch von Argumenten zur Findung des besten Ergebnisses, ausgehebelt worden. Und da nach dieser Abstimmung keine Anträge mehr zur Diskussion stand, hatten wir auch keine Chance mehr zu sprechen.

Allerdings gab es in der Geschäftsordnung die Möglichkeit einer persönlichen Erklärung im Anschluss an einen Tagesordnungspunkt, wenn etwas vorgefallen ist, was einen einzelnen Abgeordneten persönlich betrifft. Also meldete ich eine persönliche Erklärung an.

sIch ging also erneut ans Renderpult und begann meine Aussage mit den Worten: „Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Volkskammerpräsident...“

Es erhob sich Empörung im Plenum. Und schon wurde mir das Wort vom Versammlungsleiter, Herrn Thomin (SPD), entzogen und nicht nur das: ich wurde von der Sitzung wegen „Unbotmäßigkeit“ ausgeschlossen.

Was war da eigentlich geschehen?

Nun, es ist üblich, seine Rede zu beginnen mit der Floskel: „Sehr geehrte Damen und Herren, Herr Präsident!“ Mit Präsident ist der Parlamentspräsident gemeint, also in diesem Fall der Vorsitzende, Herr Thomin. Ich hatte aber gesagt „Herr Volkskammerpräsident“. Die Volkskammer war damals das Parlament der DDR. Indem ich den Vorsitzenden so tituliert hatte, habe ich unterstellt, dass es hier in etwa so demokratisch vorgehe wie im Parlament der DDR. Das fand ich in der Tat einen guten Vergleich.

kIndem ich aber nur das Wort „Volkskammerpräsident“ verwendete war ich allerdings formlrechtlich unangreifbar, denn just an diesem Tage gab es hohen Besuch im Frankfurter Römer, in dem Rathaus und Parlamentsgebäude, in dem wir uns befanden. Als Gast war nämlich Horst Sindermann (Bild), der Präsident der Volkskammer der DDR, im Hause, um sich ins Goldene Buch der Stadt Frankfurt einzutragen. Ich hatte also gewissermaßen nur den Ehrengast des Tages begrüßt.

Später hat Herr Thomin zugegeben, er habe gar nicht gewusst, das Sindermann im Hause ist, ja noch nicht einmal, was die Volkskammer sei. Er müsse das wohl mit dem Volksgerichtshof verwechselt haben. Das zeigt allerdings nur, dass er nicht nur kein demokratisches Verständnis hat und seinem Amt nicht gewachsen ist, sondern dass er auch von Zeitgeschichte keine Ahnung hat.

So wurde also der Raumordnungsplan auf skandalöse Weise verabschiedet und ich hatte mich mit einem Paukenschlag als Fraktionsvorsitzender eingeführt. Selbstverständlich standen jetzt alle Fraktionsmitglieder geschlossen hinter mir, die Frage nach Parteiflügeln war erledigt und hat diese Fraktion auch wirklich daraufhin keine Relevanz mehr. Und selbstverständlich war damit auch die halbjährliche Rotation des Fraktionsvorsitzes vom Tisch. Die Fraktion konnte und wollte mich nicht im Regen stehen lassen, und ich behielt dieses Amt bis zu meinem Ausscheiden aus der Regionalversammlung in der übernächsten Legislaturperiode.

Und wirklich erst in dieser Legislaturperiode, der von 1993 – 1997, änderte sich Grundlegendes. Erstmals waren viele junge Abgeordnete in den Reihen der SPD, auch zahlreiche Frauen. Und erstmals wurden alle Anträge so, wie von uns acht Jahre zuvor gefordert, in den Ausschüssen behandelt. Und plötzlich wurde sachlich argumentiert, man musste nicht nur die eigenen Leute hinter sich scharen, sondern musste außer der eigenen Fraktion noch mindestens eine weitere der großen drei Fraktionen überzeugen – und tatsächlich jetzt wurden nur noch etwa ein Drittel der Anträge mit GroKo-Mehrheit beschlossen, ein weiteres Drittel mit rot-grüner Mehrheit und ein Drittel mit den Stimmen von CDU und Grünen. Endlich ging es zu wie in einem zivilisierten Parlament, es gab keinen Grund mehr, der Vorsitzenden mit „Herr Volkskammerpräsident“ zu titulieren. Auf diese Weise wurde der neue Raumordnungsplan im März 1995 rechtskräftig. Meinen Beitrag zur Zivilisierung der Demokratie in der Mitte Deutschlands hatte ich geleistet.

Am nächsten Tag erklärte ich meinen Rücktritt von allen meinen politischen Ämtern.

Was zu tun war, war getan.


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