Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 30.1.2020

Szene 088 – Kohlrübchens Konto - 1982



Meine Tochter Kohlrübchen hatte schon immer eine besondere Affinität zu Geld. Dies kann natürlich auch daran gelegen haben, dass ich in ihrem Geburtsjahr (1975) mein Studium der Wirtschaftswissenschaften mit dem Schwerpunkt Geldpolitik abgeschlossen hatte und inzwischen Berufsschullehrer für Wirtschaft war. Kohlrübchen war als kleines Kind immer sehr viel mehr mit mir zusammen als mit ihrer Mutter. Bei meiner zweiten Tochter Steffi war das damals genau anders herum.

Wenn zum Beispiel in Großauheim Kerb war, das ich „das katholische Fest“ nannte, dann gingen wir dort gemeinsam hin. Ich setzte mich ins Bierzelt und hatte mir etwas zu lesen mitgenommen. Kohlrübchen bekam für die Kerb ein Taschengeld von 10 DM – für alle vier Tage. 10 DM waren für ein sechsjähriges Kind viel Geld, aber vier Tage waren auch eine ziemlich lange Zeit. Ich empfahl ihr zunächst einmal alles anzuschauen, alle Buden, die Karusells, die Leckereien usw. und sich die Preise der Dinge zu merken, die sie besonders interessierten. Ich würde bis dahin an ihrer Stelle noch nichts kaufen, sondern erst mal zurück zu mir kommen. Das tat Kohlrübchen auch. Sie stellte fest, das wenn sie jeden Tag etwas zu Essen und zu trinken kauft, eigentlich kein Geld für andere Lustbarkeiten blieb. Also sagte ich ihr, dass Essen und Getränke, wenn sie bei mir sitzt, von mir bezahlt würden – unter der Voraussetzung, dass sie nicht mehr konsumiere als ich. Auf diese Art war schon einmal sicher gestellt, dass ich nicht die ganze Zeit allein herum saß.

Als sie wieder kam, war sie einmal Karusell gefahren. Jetzt wollte sie eine Limo. Sie bekam eine Limo und ich bestellte mir ein Bier. Und nun kam Stufe zwei, des Geldtrainings. „Es lohnt sich, wenn man investiert, vorausgesetzt die Gewinnchancen sind höher als das Risiko“, erklärte ich ihr und brachte auch ein praktisches Beispiel: „Also wenn wir zusammen mit diesen Spielkarten MauMau spielen und ich setzte 10 Pfennig und du auch, dann ist das für dich kein gutes Geschäft, denn ich kann das - glaube ich - ein bisschen besser als du, sodass zu erwarten ist, dass ich zwei von drei Spielen gewinne. Wenn ich aber 20 Pfg. setze und du nur 10 Pfg., dann sind deine Chancen schon deutlich besser, vor allem, wenn du gut spielst.“

Das können wir ja einmal ausprobieren“, sagte Kohlrübchen. Also spielten wir, und ich ließ sie gewinnen. Das Mädchen bemerkte, dass sie auf diese Art ihr Fest-Geld erhöhen konnte, wenn sie nur oft genug gewann. Wir haben ziemlich häufig miteinander MauMau gespielt, im Laufe der nächsten drei Jahre viele tausend Male. Am Anfang ließ ich Rübchen absichtlich häufiger gewinnen, aber nicht zu oft, sie musste auch die Risiken erkennen. Allmählich spielte ich so gut, wie ich konnte. Da mein Einsatz jedoch immer doppelt so hoch war wie ihrer und ich jetzt weniger als zwei von drei Spielen gewann, schnitt Rübchen unter dem Strich besser ab. Ich hatte also eine Spielgefährtin, Rübchen lernte taktisch zu spielen und konnte so ihr Taschengeld aufbessern.

Irgendwann brachte ich ihr Schnauz bei, zunächst ohne Geld. Bei Schnauz legte normalerweise jeder zunächst drei 10-Pfg.-Stücke vor sich; wer dreimal verloren hat, hat kein Geld mehr und darf nur noch einmal verlieren. Der Sieger bekommt auf diese Art die 30 Pfg. des Verlierers. Allerdings ist das Spiel komplizierter als MauMau. Kohlrübchen stellte fest, dass das keine gute Investition sei. Aber jetzt schlug ich vor, in den nächsten Spielen drei 50er zu setzen, während sie nur drei 10er setzen musste. Sie hatte also die Chance in weniger als einer Viertelstunde 1,50 DM zu verdienen, was zwei Mal Autoscooter fahren war. Als meine Tochter besser geworden war, reduzierte ich meinen Einsatz erst auf dreimal 40 Pfg., später auf dreimal 30 Pfg. und schließlich auf dreimal 20 Pfg.

Eines Tages hatten wir ein Mah-Jong-Spiel gekauft. Bei diesem Spiel geht es um Punkte; mit einer besonderen Taktik gelingt es sogar, die Punkte zu verdoppeln, zu vervierfachen usw. Das neue Spiel fanden wir beide toll. Üblicherweise ging es bei dem Spiel um einen Einsatz von zwischen 20 und 60 Pfg. Es könnte allerdings auch etwas mehr sein. Und dann lief das irgendwann aus dem Ruder. Bis dahin musste der Verlierer nie mehr als 1,-- DM zahlen. Aber meine Tochter hatte Glück und spielte außerdem äußerst geschickt. Dann wurde abgerechnet: Kohlrübchen hatte über 60,-- DM gewonnen! Ihre Mutter war entsetzt: „Du kannst dem kleinen Kind doch keine 60 Mark geben.“ Das Mädchen bekam es mit der Angst zu tun: „Doch, das hab ich gewonnen, das muss du mir auszahlen.“

Kohlrübchen“, sagte ich, „du kannst das Geld sofort bekommen, klar. Aber ich mache dir noch einen anderen Vorschlag, und ich glaube der ist noch besser für dich. Stell dir doch nur vor du verlierst das Geld, oder es wird dir gestohlen.“

Das war in der Tat Kohlrübchens größte Sorge. Sie hatte bei unseren Reisen immer ausländisches Geld gesammelt und bewahrte die unterschiedlichsten Scheine in ihrer Schatzkiste auf. Und diese Schatzkiste hütete sie wir ihren Augapfel. Einmal fuhren wir mit der Fähre nach England und die Schatzkiste war im Auto. Alle Passagiere mussten auf Deck. Kolrübchens Schwester Steffi fragte: „Du Papa, was ist denn wenn jetzt das Schiff untergeht?“ Ich antwortete: „Siehst du diese Rettungsboote da? Da steigen wir ein und warten, bis uns ein anderes Schiff an Bord nimmt.“ Kohlrübchen ergänzte: „Aber erst hole ich meine Schatzkiste aus dem Auto.“ „Nein,“ sagte ich, „wenn das Schiff untergeht darf keiner mehr aufs Autodeck, viel zu gefährlich. Deine Schatzkiste wird mit untergehen und vielleicht in dreihundert Jahren von einem Schatzssucher gefunden.“ Kohlrübchen bekam die Panik, wie noch nie zuvor, sie war wirklich stark auf Geld fixiert. Und genau an diese Erfahrung wollte ich ansetzen.

Kohlrübchen, bislang hast du immer auf Risiko gespielt, du konntest gewinnen, aber auch verlieren. Es gibt aber auch sichere Investitionen. Du könntest dein Geld zum Beispiel auf ein Konto legen, dann kann es nicht verloren gehen, und es wächst sogar.“ Kohlrübchen war fasziniert. Ich holte meinen Kalender, ein Ringbuch, in dem ein Kassenbuch integriert war. „Ich kann dir hier dein Geld gutschreiben. Du kannst jederzeit beliebig viel davon abheben. Wenn wir in anderen Ländern sind, kannst du das Geld sogar in der jeweiligen Landeswährung abheben. Du kannst es nicht verlieren. Und ich verpflichte mich, selbst wenn mir etwas geklaut wird, dass ich dir auch dann das Geld noch auszahle, dann eben von meinem Gehalt. Du hast also praktisch kein Risiko. Und du bekommst außerdem noch monatlich 0,5 % Zinsen. Also wenn du beispielsweise 60 DM auf dem Konto hast bekommst du an jedem Monatsanfang noch 30 Pfg. dazu. Das nennt man Zinsen. Auf diese Art wächst dein Geld, und weil dann mehr Geld auf dem Konto ist, bekommst du auch mehr Zinsen. Du brauchst auch dein Taschengeld (damals 2 DM) nicht mehr ausgezahlt zu bekommen, ich schreibe sie dir auf deinem Konto gut, und die werden dann auch verzinst. Und du kannst jederzeit so viel abheben wie du nur willst.“

Und wenn die Oma mir fürs Zeugnis 10 Mark gibt, kann ich die dann auch dir geben und du schreibst sie aufs Konto?“ Als ich bejahte war meine Tochter Feuer und Flamme. Sie ging gleich, um die 20 DM zu holen, die neben den ausländischen Scheinen noch in ihrer Schatzkiste waren. Natürlich bekam auch ihre Schwester Steffi ein Konto, auf dem aber nie allzu viel war, während Kohlrübchen eine langsfristige Anlagestrategie verfolgte und jeden Monatsersten kam, um zu sehen, wie ich ihr die Zinsen gutschrieb.

Sie liebte das begrenzte Risiko und schätzte langfristige Anlagestrategien. Eines Tages jedoch wurde ihre Risikofreude getestet. Wir beide waren allein mit dem Carstle, also unserem Campingbus (vg. Szene 040) , im Urlaub. Den letzten Abend verbrachten wir in einem Gasthof in Österreich. Erst hatten wir Karten gespielt, dann jedoch baute Kohlrübchen aus Bierdeckeln ein Haus. Das machte sie gern. In diesem Gasthof gab es viele Bierdeckel und sie baute ein riesiges Haus, fünf Stockwerke hoch. Es gelang ihr so geschickt zu bauen, dass es nicht umfiel. Am liebsten wollte sie es nie wieder abbauen, was natürlich nicht ging. Also bot ich ihr ein Spiel an: „Kohlrübchen, du wirst es doch einreißen müssen. Aber wenn es dir gelingt, einen Bierdeckel herauszunehmen, ohne dass es einfällt, bekommst du einen Schilling.“ „Und wenn es einfällt, muss ich dann einen Schilling zahlen?“ wollte sie ihr Risiko einschätzen. „Nein, ich setze einen Schilling, du gar nichts.“

Sie betrachtete das Kartenhaus von allen Seiten. „Ich glaube das könnte klappen.“ Und tatsächlich, sie holte einen Bierdeckel heraus und es fiel nicht ein. „Ha, Horst, hättest du das gedacht?“ Ich antwortete wahrheitsgemäß: „Ich hielt es für möglich, sonst hätte ich ja mehr setzen können. Aber ich halte es nicht für möglich, dass du noch einen Bierdeckel herausziehen kannst, ohne dass es einfällt. Daher biete ich dir eine Wette an: du setzt den einen Schilling und ich setze 10 Schiling dagegen.“

Das Kind überlegte. „Den einen Schilling hatte ich vorher auch nicht, eigentlich kann ich also nichts verlieren, ich muss aber erstmal gucken.“ Sie besah sich das Haus von allen Seiten, zwei, drei Minuten lang. „Ich glaube es könnte klappen“, sagte sie und tatsächlich, sie holte noch einen Bierdeckel heraus. Irgendwie war das Haus jetzt in der Mitte breiter als unten. Kohlrübchen war überglücklich und ich staunte nicht schlecht. „Kohlrübchen, wenn du die zehn Schilling setzt, setze ich 100 dagegen.“

So viel, Horst, echt 100 Schilling, warum machst du das?“ „Ganz einfach Kohlrübchen, ich möchte meine 10 Schilling zurück, und ich glaube nicht, dass irgend jemand dort noch einen Bierdeckel herausholen kann. Das Kind begutachtete den Turm von allen Seiten. „Ich habe einen Bierdeckel gefunden, aber ich fürchte, das Haus fällt dann ein. Andererseits: 100 Schilling! Ich probiere es.“ Und mein Töchterchen gewann die 100 Schilling.

10 zu 1“, sagte ich, „ich setze 10:1, deine 100 Schilling gegen meine 1000“, das war immerhin mehr als doppelt so viel wie ihr damaliger Mah-Jong-Gewinn!

Rübchen zitterte angesichts der schwierigen Entscheidung, sie betrachtete ihr Kunstwerk über 10 Minuten. Dann hatte sie sich entschieden: „Nein, ich setze die 100 Schilling nicht. Das Risiko ist mir zu groß. Aber können wir es so machen, dass ich dennoch versuche einen Bierdeckel heraus zu holen, ohne dass du oder ich was setzen muss.“ - „Klar!“

Und ich kann meine 100 Schilling behalten, auch wenn das Haus einfällt?“ „Ja“, sagte ich, holte mein Kalender heraus und schrieb ihr 14,35 DM (das entsprach damals 100 ÖS) gut: „Die sind dir jetzt sicher, und nun bin ich mal gespannt, ob du beinahe 1000 Schilling gewonnen hättest. Allerdings muss ich sagen: ich halte das für unmöglich, sonst hätte ich ja nicht so viel gesetzt.

Und das Kind schaffte es, tatsächlich noch einen Bierdeckel herauszuholen. „Mist,“ entfuhr es ihr, „ich hätte 1000 Schilling reicher sein können!“ - „Nein, Kohlrübchen, nur 900 Schilling, denn die 100 hast du ja noch.“

Sag mal, Horst, wenn ich jetzt gewonnen hätte, hättest du dann noch eine Runde weiter gespielt und 10.000 Schilling gesetzt?“ „Mit Sicherheit ja, denn dass irgend jemand dort noch einen Bierdeckel herausholt ist absolut unmöglich!“ Und hätte die Kleine mir jetzt angeboten ihre 100 Schilling zu setzen, wenn ich 10.000 Schilling setzen würde, ich hätte das angenommen, so sicher war ich.

Und dann zog Kohlrübchen zu unser beider Erstaunen noch einen Bierdeckel heraus. Gut dass sie mir die 100:1-Wette nicht abgeboten hat!

So also war die Sache mit der Wirtschaftslehre für ein kleines Mädchen. Kontoführung, Zinsen, Risikoabwägung, sichere Gewinnchancen und venture capital, all das wurde vermittelt per learning by doing. Und meine Tochter wurde auf diese Art allmählich älter. Als sie 14 war, kam sie einmal ganz verstört zu mir: „Horst, ich weiß noch gar nicht, was ich von Beruf werden soll.“ Ich schlug ihr vor, in Ginos Pizzeria zu gehen und dort ihre Karrieremöglichkeiten zu besprechen.

Ich erläuterte ihr, dass ich erst Abi gemacht, dann ein Studium absolviert hätte, vier Jahre, bei den meisten Leuten würde es sechs Jahre dauern, dann meine Refrendariatszeit, hier hätte ich das erst Mal Geld bekommen, mit 25 Jahren, mehr hätte ich dann erst nach der Refrendarzeit gehabt, und selbst da wäre noch nicht sicher gewesen, dass sie mich auch nähmen.

Ich konnte es meiner Tochter ansehen: Noch mehr als zehn Jahre aufs erste selbst verdiente Geld zu warten, das wäre schon hart!

Daher halte ich inzwischen etwas anderes für besser. Man sucht sich einen Lehrberuf, der einem wirklich Spaß macht. Bei dir könnte ich mir vorstellen Bankkauffrau, du hättest immer mit Geld zu tun, und könntest dich nach deiner Lehre noch weiter qualifizieren. Eine andere Variante wäre Reisebürokauffrau, denn du reist gerne. Reisebürokauffrauen werden häufig auf Firmenkosten auf Reisen geschickt, sie sollen die Leute schließlich gut beraten können.“

Ja, Daddy, das klingt schon alles sehr vernünftig. Aber verdient man nicht viel mehr, wenn man studiert hat?“ Ich wiegelte ab: „Das kommt darauf an, in welchem Job. Aber selbst wenn man - sagen wir - nur 2000 DM nach einer Lehre als Kaufmannsgehilfin bekommt, so sind das in fünf Jahren 120.000 DM, die muss die Studierte dann erst einmal herein holen, denn sie hat ja fünf Jahre fürs Studium investiert! Aber nehmen wir an, du bist Bankkauffrau, und du bist wirklich gut. Dann zahlt dir die Bank ein Aufbaustudium neben dem Beruf, dann bist du eine Studierte, hast während des Studiums ein Einkommen, und vorher schon die 120.000 DM verdient.“

Gut“, sagte Kohlrübchen, „ich werde Bankkauffrau. Das mit dem Urlaub ist auch gut, aber den kann ich mir dann von meinem Gehalt zusätzlich leisten.“


Vier Jahre später machte sie Abi. Anschließend absolvierte Kohlrübchen eine Banklehre. Danach studierte sie auf Kosten der Bank. Sie bekam eine gut bezahlte Stelle an verantwortlicher Position bei der Frankfurter Sparkasse in einem dieser Banktürme ziemlich weit oben. Wenig später machte sie sich in der Schweiz selbstständig. Letzte Woche habe ich mit ihr telefoniert. Sie möchte noch einmal etwas ganz anderes machen, sie habe gerade einen Vertrag als Reiseleiterin unterzeichnet, sie werde jetzt alle Kontinente auf Firmenkosten bereisen.

Es scheint mir, meine Beratung in Ginos Pizzeria war nicht so ganz falsch. Und auch nicht mein etwas unkonventioneller Privatunterricht in Wirtschaft und Geldpolitik für meine Tochter.

Aber vielleicht wäre es noch deutlich besser gewesen, wenn ich meine Tochter erst bekommen hätte, als ich Buddhist war. Wie viel Besseres hätte ich ihr dann vermitteln können!


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