Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 22.1.2020

Szene 085: Ist das der Atomkrieg? - 1970



Der Atomkrieg ist in den letzten 30 Jahren als reale Bedrohung aus dem Bewusstsein der Menschen fast verschwunden. In den 40 Jahren davor war das anders. 1945 hatten die USA die ersten beiden Atombomben über Japan abgeworfen und damit die Japaner zur Kapitulation gezwungen, kurz darauf begann der kalte Krieg zwischen den von den USA und der Sowjet-Union dominierten Blöcken. Bis 1950 hatten beide Supermächte nicht nur Atom- sondern auch Wasserstoffbomben entwickelt und testeten immer stärkere Waffen in der Atmosphäre, was zum Anstieg der Radioaktivität auf der ganzen Welt führte (vgl. Szene 037- Grasmücke).

Und wie überall, so bereitete man sich auch in der BRD auf den Ernstfall vor. So wurden regelmäßig Luftschutzübungen durchgeführt. Alle drei Monate wurde die Bevölkerung über die Sirenensignale informiert: Zunächst heulten die Sirenen eine Minute im Dauerton (Entwarnung) dann kam das Signal für einen ABC-Angriff (Angriff mit atomaren, biologischen oder chemischen Waffen), also mit Massen- vernichtungswaffen. Schließlich wurde wieder Entwarnung gegeben. Wir wurden in der Schule darauf vorbereitet, was das bedeutete und wie man sich versuchen sollte zu schützen; auch Fernsehen, Rundfunk und die Zeitungen informierten tags zuvor über die bevorstehende Übung. Es war etwas, das meine Einstellung zu den Naturwissenschaften nachhaltig prägte: Physiker waren die, die Atombomben ermöglichten, Biologen und Chemiker, diejenigen die mit ihrer Forchung die Grundlagen für die anderen Arten von Massenvernichtungswaffen schafften.

Und dann kam der Sommer 1970. In diesem Moment war alles andere wichtiger als die Atomwaffen, denn jetzt war Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko. Vier Jahre zuvor war Deutschland ins Finale gekommen, hatte damals in London gegen England verloren. Würden wir diesmal Weltmeister? Die Bundesrepublik Deutschland hatte die vermutlich stärkste Elf, die es jemals auf den Rasen brachte, zu ihr gehörten Sepp Maier im Tor, in der Abwehr standen unter anderem Franz Beckenbauer und Berti Vogts, im Mittelfeld spielten Helmut Haller und Wolfgang Overath und im Angriff standen Stan Libuda, Sigi Held, Gerd Müller und Uwe Seeler. Meine Mutter war ein großer Fan unserer Nationalmannschaft und selbstverständlich sahen wir alle Spiele auf unserem neuen Farbfernseher. Es war ein warmer Sommer, der Tag war heiß, und jetzt am Abend kam endlich Kühle, wir hatten unser Fenster sperrangelweit aufstehen, und man konnte hören, dass nicht nur bei uns, sondern überall die Fußball-WM auf den Bildschirmen lief. Es war schon spät, zwischen 22 h und 23 h (in Mexiko natürlich erst Nachmittag) als es geschah: die Sirene heulte los. Das kam immer einmal vor, denn damals wurden die Leute der Freiwilligen Feuerwehr noch mit den Sirenen zum Einsatz gerufen.

Aber das war kein Feueralarm, das war ABC-Alarm, ganz eindeutig. Meine Mutter sah mich mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an, sie war im Krieg ausgebombt worden (vgl. Szene 017-Ruth), später hatte sie sich in der Bewegung „Kampf dem Atomtod“ engagiert. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, alle Haare richteten sich auf. Mutter drehte den Fernseher leiser: „Was jetzt?“ Drei Jahre zuvor war unser Luftschutzkeller weggeräumt worden: hat in einem themo-nuklearen Krieg eh´ keinen Sinn.

„Gehen wir raus auf die Straße, das geht schneller“, sagte ich. Es war klar: sollte das der Ernstfall sein, sollte es einen atomaren Angriff auf die Bundesrepublik geben – völlig egal welcher Idiot als erster auf den Knopf gedrückt hat - die Hanauer Nuklearbetriebe, das Herz der deutschen Atomwirtschaft, würde ein primäres Ziel sein, und das „Atomdorf“, wie es damals hieß, lag nur 2 Kilometer entfernt.

„Aber sie haben das Fernsehprogramm nicht unterbrochen“, wandte ich hoffnungsvoll ein. „Vielleicht will uns da jemand in Hoffnung wiegen. Auf der Titanic haben sie auch das Orchester während des Untergangs weiter spielen lassen,“ gab meine Mutter zurück.

Wir waren nicht die einzigen auf der Straße, aus allen Häusern kamen die Menschen und versammelten sich auf der Straße. Ich habe – außer früher während der Festzüge – niemals so viele Menschen auf unserer Straße, der Auwanne, gesehen wie heute – und das abends kurz vor elf! Entsetzte Gesichter, ungläubige Gesichter, verstörte Menschen.

Inzwischen hatten die Sirenen aufgehört zu heulen, aber ohne das Zeichen für Entwarnung am Schluss! Wir gingen ein Haus weiter, dort ging die Annastraße ab, man konnte dort weit blicken – kein einziges Haus zwischen uns und den Nuklearbetrieben. Wenn sie kommen, müsste man sie gleich einschlagen sehen, die Atomraketen, es würde dann gleisend hell, tödliche ionisierende Strahlung würde unsere Körper treffen, aber bevor diese tödlich ist, würde uns die Druckwelle erreichen und nach hinten schleudern. Vermutlich würden wir irgendwo mit zerschmetterten Knochen liegen und hoffen, dass die Strahlung so stark ist, dass sie uns möglichst schnell tötet.

In diesem Moment ertönt die Sirene wieder. Diesmal: Feueralarm. Wir sehen uns an, war vielleicht alles nur ein Irrtum? Die Feuerwehrstation ist nur 200 m entfernt, um die nächste Ecke, erste Autos der Feuerwehrleute, die zur Wache fahren, brausen um die Ecke. „Da“, ruft einer und zeigt mit dem Finger – aber nicht in Richtung Nuklearbetriebe, sondern in eine ganz andere Richtung, auf ein großen, roten Widerschein von Feuer: „Das ist doch genau da, wo das Spritzenhaus der Feuerwehr ist.“ - „Nein“, sagt Adolf, ein Nachbar, „das muss beim Bauer Weber sein. Ich habe heute Mittag gesehen, wie der seine Kühe weggeführt hat. Freundlich von ihm, die sollen schließlich nicht verbrennen.“

Wir gehen zusammen Richtung Feuerwehr: „Aber der ABC-Alarm?“ frage ich. „Naja“, schließt Adolf nicht ganz unlogisch, „der Hof vom Weber ist doch direkt neben dem Spritzenhaus. Hätte es Feueralarm gegeben, wäre schnell gelöscht worden. Der wird einen von der Feuerwehr kennen. Und er ist mit Sicherheit gut versichert.“

Auf diese profane Weise endete der Atomkrieg von Großauheim.


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