Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 29.1.2020

Szene 078 – Bulgariens wilder Westen – 2012


Auszug aus meinem Wandertagebuch meiner Pilgerwanderung nach Osten – Etappe 091 vom ersten Abend in Bulgarien - ganz an der Grenze zu Serbien und Rumänien:

Dann kam ich an die Grenze, die ziemlich verwaist schien: der Duty-Free-Shop war zu, die Wechselstube geschlossen, der Imbiss und ein Restaurant schienen schon vor Jahren ihr Geschäft geschlossen zu haben, lediglich zwei Grenzer, ein serbischer und ein bulgarischer, verrichteten noch ihren Dienst. Selbstverständlich war auch der Wachturm aus der Zeit des kalten Krieges zwar noch vorhanden, aber seit 20 Jahren außer Dienst. Hätte ich nicht gewusst, dass ich die E 79, eine europäische transnationale Fernverbindung entlang gehe, ich hätte mich auf einem verlassenen Truppenübungsplatz gewähnt. Die Straße hieß auf bulgarischer Seite nicht mehr M 29 sondern Route 12, aber auch in dem Ort, der unmittelbar hinter der Grenze liegt, in Bregovo, gab es nicht mehr Verkehr als auf einem schlecht besuchten Kinderspielplatz. Irgendwie wirkte alles hier gespenstisch leer. Mein erstes Ziel war es nun, mir bulgarische Leva zu besorgen, denn an der Grenze war das ja nicht möglich, also ging ich ins Ortszentrum, wo mich ein großer Marktplatz erwartete.

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Es war ein absolut menschenleerer Platz, um den herum geschlossene Läden, aufgegebene Restaurants, ehemalige Gaststätten und geisterhaft leere Bürohäuser standen. Ich fand ein Bürogebäude, an dem sich ein Bankautomat befand. Ich führte meine Karte ein und siehe: er funktionierte, man konnte sogar die Sprache wählen. Er fragte mich auf englisch, ob ich 10, 20, 30 oder 40 Leva abheben wollte. Die größte Geldmenge, die also offensichtlich normalerweise abgehoben wurde, waren 40 Leva, rund 20 €. Aha.

Der Lev, die bulgarische Währung, war früher im Verhältnis 1:1 an die DM gebunden, so ist auch heute noch der Umrechnungskurs zum Euro so, wie früher der zur Deutschen Mark, genau 1 : 1,95583.

Am Rande des überdimensionierten gespenstisch leeeren Marktplatzes (oben) fand ich eine offene Gaststätte.

Da ich mich erinnerte, dass es in den 80iger Jahren, also noch zu Zeiten des Sozialismus, in bulgarischen Gaststätten eine große Auswahl an Schweppes-Sorten gab, fragte ich nach diesem Getränk. Nein, das habe man nicht. Da ich einen Kühlschrank mit einer großen Coca-Cola-Reklame sah, fragte ich also danach. Ja, das habe man, sagte die Bedienung, und verschwand im Laden.

Kurz darauf kam sie jedoch zurück: nein, doch nicht, die Flasche Cola habe man wohl letzte Woche verkauft. Aha. Sie führte mich zum Kühlschrank, damit ich mir etwas aussuchen könne. Es gab drei Sorten Flaschenbier, sonst nichts. Aha. Sehr enttäuscht war die Bedienung, dass ich als Ausländer nicht das (vermutlich teurere) Becks wollte, sondern das lokale Pivo. Es war noch früher Nachmittag und ich bemühte mich, möglichst langsam zu trinken, denn es war warm und Bier am Nachmittag – naja.

Ich wollte schließlich bis etwa gegen 18 h hier bleiben, denn ich hatte zwei Tage zuvor von den polnischen Radlern gehört, dass es gar keinen Sinn habe, hier nach einer Übernachtungsstelle zu suchen, also war dies der Tag, an dem ich erstmals dazu kommen würde, endlich eine Nacht mit oder ohne Zelt im Freien zu verbringen. Und da ich meine Lagerstatt nicht zu zeitig und nicht zu nah am Ort aufschlagen wollte, hatte ich mir an der Karte eine Gegend ausgesucht, etwa 6 km von hier, die ich vor – aber nicht allzu lange vor – Einbruch der Dunkelheit erreichen wollte. Doch kurz vor 16 h, nach meinem zweiten Bier, schloss das Lokal, jetzt sei Wochenende. Offensichtlich erwartete man samstags nach 17 h keine Kundschaft mehr (in Wirklichkeit war es bereits 17 h, nicht 16 h, denn in Bulgarien gilt die osteuropäische Zeit, was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste).

Kurz vor 17 h OESZ kamen noch zwei Kunden, die um die Öffnungszeiten wussten, und sich wohl für´s Wochenende eindecken wollten, denn es schien sonst keine Einkaufsmöglichkeiten zu geben. Als der letzte Kunde erschien, dachte ich mir: so ärmlich und abgerissen, so elend gekleidet, würde kein Mensch in Afrika herumlaufen.

Der Mann hatte ein kleines, ziemlich schmutziges und ebenso fröhliches Kind bei sich. Dann tätigte er seinen Wochenendeinkauf. In der offenen Hand trug er vorsichtig seinen soeben erstandenen Schatz nach Hause: eine Zigarette – eine einzige! Da das Lokal jetzt geschlossen war, brach auch ich in der Hoffnung auf, irgendwo noch Wasser zu bekommen. Ich hatte noch zwei 0,5-l-Flaschen warmes Wasser bei mir, aber ich wusste, dass das bei diesem Wetter und meinem Schweißverlust nicht bis morgen Mittag, wenn ich in Vidin ankommen würde, reichen könnte.

Ich fand jedoch keinen Laden und kein Lokal mehr, jedenfalls kein geöffnetes, also hoffte ich auf eine Tankstelle am Ortsende, schließlich befand ich mich auf der E 79! Diese Straße war sehr breit, vermutlich gab es zu besseren Zeiten hier auch entsprechenden Verkehr. Jetzt jedoch wirkte die Prachtstraße wie für den Verkehr gesperrt. Und das Erstaunlichste: es gab nicht einmal ruhenden Verkehr, es sah vielmehr so aus, als sei das Auto noch nicht erfunden, oder als hätte zumindest niemand ein solches. Doch wenig später wurde ich doch noch eines auf der Fernstraße parkenden Verkehrsmittels Gewahr. Es sah mich mit freundlichen Augen an und hatte lange Ohren.

Ein anderes Wesen traf ich im Ort noch an, einen Menschen. Er sagte so etwas wie einen Gruß: „Can give me money?“ Dann kam ich aus dem Ort heraus und tatsächlich gab es hier zwei Tankstellen, doch ohne einen Verkauf von irgend etwas anderem als Benzin. Es gab nicht einmal einen Wasserhahn!

So verließ ich ziemlich verstört und voller düsterer Ahnung für die etwa 700 km Bulgarien, die nunmehr vor mir liegen, Bergovo. Am Rande der Stadt habe ich noch einen erbärmlichen Kleinbauernhof (bewohnt) und eine Fabrik (verwaist) zu Augen bekommen.

Ich folgte der Europastraße auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz; hin und wieder begegnete mir ein Fahrzeug, meist von einem Pferd gezogen.

Auf der Landkarte hatte ich eine Stelle ausgemacht, die so aussah, als sei dort ein Bachlauf, über den kleine Brücken gehen, und dahinter Felder oder Wiesen. Dort wollte ich hin, allerdings wurde mein Durst stärker, wozu vielleicht auch die Tatsache beigetragen hatte, dass ich am Nachmittag zwei Flaschen Bier getrunken hatte. Meine geplante Übernachtungsstelle stellte sich als Brennnesselfeld heraus. Also beschloss ich, noch den nächsten Ort zu passieren, vielleicht gab es dort etwas zu trinken. Inzwischen hatte ich eine der beiden 0,5-l-Flaschen geleert und es waren noch ca. 18 Stunden, bis ich in Vidin etwas bekommen würde.

In diesem Zusammenhang muss ich erwähnen, dass sich auf meiner ganzen Wanderung eine Art Hintergrunddurst aufgebaut hatte. Ich schwitzte so stark, dass ich praktisch beständig Durst hatte. Einmal habe ich 5 l Flüssigkeit zu mir genommen, es passte wirklich nichts mehr hinein, aber das Durstgefühl war noch immer nicht verschwunden – und ich musste auch in den nächsten sechs Stunden nicht austreten. Der Hintergrunddurst blieb bis drei Tage nach Ende meiner diesjährigen Pilgerwanderung. So stellte sich inzwischen so etwas wie Panik bei mir ein: ich sah mich schlaflos und durstig daliegen, in der Nacht durstgeplagt aufstehen und im Dunkeln dem entfernten Vidin zuwanken, wo man am Sonntagmorgen in aller Frühe sicher auch nichts bekäme.

In diesem Zustand erblickte ich an einer Weggabelung ein eingezäuntes Umspannwerk. Auf dem Dach arbeiteten zwei Männer – dort musste es Wasser geben! Doch Zaun und Warnschilder waren mir jetzt egal – ich wollte da rein – wie einst Gerhard Schröder ins Kanzleramt. Und ich verschaffte mir – gewissermaßen als Einbrecher – Zutritt. Die Männer auf dem Dach versuchten mich davon abzuhalten und ein ziemlich großer, höchst interessierter Wachhund kam auf mich zu, ihm schien die Abwechslung zu gefallen, und angesichts der vielen freundlichen Bodhisattvas, die mit mir reisten, kam er gar nicht erst auf die Idee, irgendwie aggressives Gehabe an den Tag zu legen, vielmehr begrüsste er freudig interessiert meine Freunde. Die Arbeiter wunderte es, und ich legte jetzt meine beste Leidensmine auf, reckte ihnen meine beide leeren Trinkflaschen entgegen: „Molja, voda!“

Ich bekam Wasser, bedankte mich herzlich und meine größte Sorge war gelöst. Inzwischen war ich wirklich erschöpft. Beim Ort Gamzovo rastete ich noch einmal auf einer Bank vor einer Haustür. Es war ein kleines Dorf, wo alte Leute und Kinder den Feierabend mit Gartenarbeit oder im Spiel verbrachten und wo nichts darauf hindeutete, dass es irgendwo auf diesem Planeten möglicher Weise irgend etwas zu kaufen gäbe. So müssen frühere Jahrhunderte ausgesehen haben! Kurz nach Gamsovo fand ich eine Stelle, die ich für einen geeigneten Übernachtungsplatz hielt. An einem Abzweig standen einige Birken, dahinter war ein Stoppelfeld, dessen Stoppeln umgewalzt waren und wo etwas frisches Grün sprießte. Die Stelle war von der Straße nicht und von dem abzweigenden Weg kaum einzusehen.

p Als ich in meinem improvisierten Bett lag – auf das Zelt verzichtete ich, da es nicht nach Regen aussah und ich leichter aufstehen können wollte, ich wusste ja, dass meine Beine nachts immer etwas brauchen, bis sie wieder funktionieren – kamen mir merkwürdige Geräusche an die Ohren, ein leichtes Blip-Blip. Es hörte sich an, wie wenn Luftblasen im Wasser aufsteigen, aber das konnte ja gar nicht sein. Der Boden war schließlich strohtrocken nach solch einem heißen Tag. Aber irgendwie hörte es sich ziemlich nah an.

Bald wurde ich jedoch durch einen sehr starken Luftverkehr abgelenkt. Nein, ich meine keine Flugzeuge, sondern Insekten. Vorsichtshalber cremte ich mich mit Autan ein, wovon ich zwei Flaschen seit 2000 km praktisch ungenutzt mit mir herumgetragen hatte. Es insektete weiter, ich wurde aber nicht gestochen, doch die unterschiedlichsten Flugge- räusche der Kerbtiere verwun- derten mich schon ob ihrer großen Vielfalt. Ich hatte mir die auf zwei Zentimeter selbstaufblasende (naja) Luftmatratze untergelegt und meinen leichten Reiseschlafsack genommen. Der war offensichtlich u. a. deshalb so leicht, weil er unwahrscheinlich eng war. Um nicht an Klaustrophobie zu verenden, konnte ich ihn nicht höher als bis zur Taille schließen. Erstaunlicherweise wurde es hier am Boden in der Nacht relativ kühl, sodass ich mir etwas anzog, was ich bislang auch unnötig herumgetragen hatte, was mir jetzt aber um so willkommener war: ein Flanellhemd.

In der Nacht musste ich zweimal austreten. Zwar hatte ich nicht allzuviel Flüssigkeit zu mir genommen, aber man wird eben alt. Und nun stellte ich ein weiteres Problem fest. Ich kann, wenn meine Beine ermüdet sind, kaum vom Boden aufstehen. Bei zweimal Aufstehen, bin ich insgesamt immerhin dreimal wieder gestürzt, weil mir die Beine den Dienst versagten. Auch ein Problem, das nächstes Jahr Schwierigkeiten machen dürfte, wenn mir bis dahin nichts einfällt.

Es war für mich eine recht unruhige Nacht und bereits in der Morgendämmerung stand ich auf. Aber was war das? Alles, was aus Stoff war und ich abgelegt hatte, war nass, insbesondere mein Leinenbeutel und mein Hut. Da wird doch nicht etwa ein Hund!....

Nein, das hätte ich in der Nacht bemerkt, so leicht wie mein Schlaf war. Aber alles war gleichmäßig durchfeuchtet – und es roch auch so wie…

Offensichtlich war der Boden jetzt am Morgen nicht mehr so trocken wie nach der Hitze des Tages. Und da fiel es mir auch wie Schuppen von den Augen: wenn hier frisches grünes Gras wächst und das nach einem Monat sengender Hitze, praktisch ohne Regen, dann muss das Gras Wasser von unten bekommen. Und die Birken! Birken sind die Bäume, die in einem Maße Wasser verdunsten, wie sonst keine andere Pflanze. Die können nur dort gedeihen, wo sie an genügend Wasser kommen. Offensichtlich reicht hier der Grundwasserspiegel bis fast an die Oberfläche. Nur die alleroberste Erdschicht war gestern Abend durch die Tageshitze trocken.

Und was den Geruch angeht: die haben hier vermutlich kräftig gedüngt. An der Oberfläche ist alles Wasser verdunstet, nur die Harnsäure hat sich abgelagert. Durch das aufsteigende Wasser, löst sich diese in der Feuchtigkeit erneut, kann jedoch nicht verdunsten, aber sie kann mit der Feuchtigkeit in meine Leinentasche und in meinen Hut ziehen. Nichts entsteht ohne Ursache. Man muss nur die Zusammenhänge erkennen. Ich glaube ich werde noch viel lernen müssen, bis ich ein echter Naturbursche bin, der unter freiem Himmel lebt. Nun ich werde im nächsten Jahr noch viel Gelegenheit haben, mich als lernendes System zu begreifen!

Das war am lezten Tag meiner Pilgerwanderung 2012. Im nächsten Jahr ging es quer durch Bulgarien.


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