Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 21.1.2020

Szene 067 – Der Mensch des 21. Jahrhunderts -1969


In den Jahren 1967 bis 1971, in meinen letzten vier Jahren vor dem Abi an der Hohen Landesschule in Hanau, war Dr. Havekoss mein Klassenlehrer. Wir hatten bei ihm zunächst Latein, später Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Deutsch und Musiksoziologie.

Letzteres Fach war mir, einem völlig unmusikalischen Menschen, ein Gräuel. Zum Glück gab es die Möglichkeit, Referate zu halten. Allerdings muss ich zugeben, dass das Referat, das mir Dr. Havekoss zugewiesen hatte, schon etwas sperrig und höchst ungewöhnlich war, und dass es in Zeiten, bevor es Internet gab, eigentlich kaum zu bewerkstelligen war, der Titel: „Die revolutionäre Wirkung des Kontrapunktes in der Werken Christoph Willibald Ritter von Glucks, unter besonderer Berücksichtigung der Oper Orpheus und Eurydike“. Irgendwie mit vielen Mühen und schließlich unter Zuhilfenahme von Kontakten zu Musikstudenten, gelang es, auch dieses Problem zu lösen.

Aber es gab nicht nur Referate, sondern auch Hausaufgaben bei Dr. Havekoss, und für die hatte man nicht einige Wochen Zeit, sondern nur einen oder allenfalls wenige Tage. Allerdings waren die Aufgabentitel auch weniger exotisch. Ich war zwar inzwischen ein recht eifriger Schüler, zumindest seit meiner „Unterrichtsübernahme“ (Szene 042), allerdings deckte sich meine Meinung nicht mit der meiner LehrerInnen, was als Hausaufgabe sinnvoll sei. So besuchte ich regelmäßig die Volkshochschule und sah nicht nur das Bildungsfernsehen, sondern schrieb dort auch mit und archivierte die Inhalte.

Das hatte natürlich Folgen für meine Hausaufgaben, die mir als vergleichsweise unwichtig erschienen. So entspann sich nicht selten ein solcher Disput:

Havekoss: „Herr Gunkel, lesen Sie doch mal ihre Hausaufgabe der Zusammenfassung vom 2. Abschnitt von Günther Schmölders Konjunkturen und Krisen vor.“

Horst: „Herr Dr. Havekoss, ich habe diese Zusammenfassung nicht geschrieben. Ich hatte den Abschnitt bereits vor zwei Wochen gelesen. Die Hausaufgabe dazu von gestern auf heute hätte ich nicht erledigen können, wenn ich gestern Nachmittag und Abend nicht auf mindestens einen dieser Vorträge verzichtete hätte. (1) Prof. Dr. Hofstädter: Die Clique – eine Variante der Gruppe, (2) Prinzessin v. Ysenburg: Das Werk des Renaissancekünstlers Hans Holbein d. Ä. (Bild), (3) Horst Eberhard Richter: Familienneurose oder (4) Dr. Wolfgang Haseloff: Die Bedeutung der ungleichen Verträge für das Weltbild der Kuomintang und der KPCh. Hier bitte sehr, Herr Dr. Havekoss, meine Mitschriften, insgesamt 23 Seiten. Ich nehme an, sie haben Verständnis dafür, dass ich da nicht auch noch die wenig hilfreiche Hausaufgabe erledigen konnte, die Sie uns aufgegeben haben.“

Dies war kein einmaliges Ereignis, vielmehr war dies ein Muster, was sich so oder so ähnlich fortlaufend abspielte. Ich war sehr fleißig, entschied aber selbst, woran ich arbeitete: „Das System Schule hat sich überlebt“, klärte ich meinen Klassenlehrer auf. Zum Glück sah dieser eigentlich ein, dass ich recht hatte, auch wenn er das so nicht vor der versammelten Klasse ausdrücken konnte.

Es gab aber auch Fälle, wo wir deutlicher aneinander gerieten, so z. B. wenn der Schulrat kam und ich im Unterricht mit einer Proletariermütze mit einem roten Sowjetstern darauf saß. Dr. Havekoss riss mir die Mütze vom Kopf: „Wohl total verrückt geworden, Gunkel.“

Ich protestierte heftig: „Das soll ein wirtschaftswissenschaftlicher Unterricht sein?“

Dr. Havekoss: „Ja, aber immer noch in der Bundesrepublik, wir sind hier nicht bei den Kommunisten!“

Gunkel: „Herr Dr. Havekoss, ich muss sie doch wohl sehr bitten. Selbstverständlich habe ich einen Sponsoring-Vertrag mit der Fa. Caltex!“ Der amerkanische Ölkonzern Caltex, so muss man wissen, hatte zufällig das gleiche Emblem, wie die Sowjetunion als Firmenzeichen: den fünfzackigen roten Stern.

Warum ich das alles schreibe, liegt aber einzig daran, dass mit Dr. Havekoss eines Tages das schönste Kompliment machte, das ich in meinem ganzen Schülerleben bekam.

Er kritisierte gerade unseren Klassenprimus: „Nowitsch, Sie durch die Nasenscheidewände osmotisierendes Rüsseltier, Sie sind zwar ein ausgezeichneter Schhüler, aber Sie gehören hier einfach nicht her, Sie gehören ins 19. Jahrhundert! So etwas von deplatziert ist mir überhaupt noch nicht untergekommen!“ … Er machte eine kurze Pause. Dann sah er mich an und fuhr fort: „...außer vielleicht beim Gunkel, der gehört irgendwo ganz anders hin. In welches Jahrhundert der gehört, weiß ich allerdings auch nicht. … Vielleicht ins 21. Jahrhundert.“ Er überlegte einen Moment und ergänzte dann: „Hoffentlich.“

Das hat mich ungeheuer gefreut, das vielleicht schönste Lob, das ich in diesem ganzen Leben, während dieser ganzen Zeit auf meinem verschlungenen Pfad bekommen habe.

Inzwischen haben wir das 21. Jahrhundert, wir schreiben das Jahr 2017. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass ich ein Mensch des 21. Jahrhunderts bin. Manchmal frage ich mich sogar ganz vermessen, ob dieses Jahrhundert meiner würdig ist.

Ich hoffe jetzt auf das 22. Jahrhundert. Andererseits … auch das gegenwärtige Jahrhundert kann sich ja vielleicht noch mausern... (...hoffentlich!)


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