Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 21.1.2020

Szene 063 - Wochenende im Rausch



Zugegebenermaßen ist der Titel dieser Szene missverständlich. Vermutlich nimmt die geneigte Leserin an, es ginge um ein Besäufnis oder sonst einen rauschhaften Zustand. Das ist allerdings nicht der Fall. „Im Rausch“ ist vielmehr der Name einer Straße in Großauheim.

Großauheim, heute ein Stadtteil Hanaus, ist der Ort, in dem der Mensch 1951 geboren wurde. Und „Im Rausch“ ist mein Vater aufgewachsen. Er war der älteste der drei Söhne von Karoline („Lina“) geb. Meisel und Alois Gunkel. Alois war bei meiner Geburt schon verstorben. In dem Haus im Rausch wohnte meine Großmutter, die Mutter meines Vaters – nicht zu verwechseln mit der „lieben Großmutter“ Frieda Gutmann, der Mutter meiner Mutter. Diese unterschiedliche Bezeichnung liegt nicht etwa daran, dass die Großmutter im Rausch, die Oma Lina, etwa nicht lieb gewesen wäre. Vielmehr ist es so, dass ich irgendwann beide Omas nicht mehr mit „Oma“ anreden wollte. Und Omas mit Vornamen anzureden war damals noch nicht opportun, allerdings redete man sie auch nicht mehr mit Nachnamen an.

Wenn wir über die Großmutter im Rausch als dritte Person sprachen, dann wurde sie allerdings „die Oma Gunkel“ genannt. Na, und ich bin irgendwann in den 60ern auf die Anrede „Großmutter“ gekommen. In späteren Jahren (in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts) redete ich dann die Oma, die bei uns in der Auwanne wohnte (Frieda), mit „liebe Großmutter“ an. Aber das hat die Großmutter im Rausch nicht mehr mitbekommen, denn da hatte sie bereits einen Schlaganfall.

Und wenn diese Szene die Überschrift „Wochenende im Rausch“ hat, dann geht es eben darum, dass ich ein Wochenende bei meiner Großmutter im Rausch verbrachte. Der Rausch ist eine Siedlung, die Ende der 20er Jahren errichtet wurde, eine Siedlung für einfache Leute, Arbeiter, kleine Angestellte. Alois, mein Großvater, war Diamantschleifer. Die Nachbarstadt Hanau war damals die „Stadt des edlen Schmuckes“, hier wurden Goldgeschmeide, und alles, was mit Edelsteinen, insbesondere mit Diamanten besetzt war, hergestellt. Ein Diamant ist eine besondere Kohlenstoffverbindung, die der härteste natürliche Gegenstand auf diesem Planeten ist. Und wenn man einen Diamanten in einer bestimmten Weise schleift, sodass er insgesamt 84 Flächen hat, die in einem bestimmten Winkel zueinander stehen, dann nennt man die einen Brillanten. Ein Brillant von zwei Karat (ca. 8 mm Durchmesser) hat einen Wert von derzeit zwischen 10.000 und 20.000 EUR, je nach Reinheit.

Das Haus „Im Rausch 34“ war ungefähr 1 km von unserem Haus entfernt und das allerletzte Haus in Großauheim. Das Grundstück war vorn von der nicht gepflasterten Straße - eigentlich einem breiten Feldweg - begrenzt, der dort endete, auf einer Seite vom Grundstück Im Rausch 32 und auf den beiden anderen Seiten von Bahngleisen, denn unmittelbar ans Grundstück schließt sich das Gleisvorfeld des Hanauer Hauptbahnhof an, der zum Großteil auf Großauheimer Gelände liegt. Da früher Dampflokomotiven verkehrten, konnte es immer wieder zu Funkenflug kommen, daher musste ein breiter Streifen neben den Bahngleisen frei von Bebauung sein, also hatte meine Großmutter einen sehr langen Garten hinter dem Haus. Dort gab es einige Obstbäume und sehr viele Gemüsebeete.

1(Das Bild zeigt mich im Alter von 22 Monaten mit meiner Großmutter väterlicherseits – Oma Gunkel)

Die Wohnung meiner Großmutter war sehr klein. Vom Treppenhaus, das zum Obergeschoss führte, in dem Engelbert, der Bruder meines Vaters, mit Frau und Tochter in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung lebte, kam man direkt in die Küche. Von der Küche war durch eine wackelige Wand aus dünnem Sperrholz das Bad abgetrennt, das nicht viel größer war als die Badewanne und der Platz davor, wo man sich ausziehen konnte. Das Badewasser wurde von Gas erwärmt, das war sehr fortschrittlich und auch in der Küche stand ein Gasherd. Dieser war münzbetrieben! Um zu kochen oder Warmwasser zu bekommen, musste man in den Gasherd 50 Pfennig einwerfen, was dann vielleicht für drei oder vier Tage reichte. Wenn beim Kochen das Gas erlosch, war es an der Zeit, wieder 50 Pfennig nachzuwerfen. Allerdings sollte man tunlichst zuvor alle Gasbrenner auf 0 stellen, damit kein Gas ausströmte und sich im Raum anreicherte, sonst drohte ein Gasvergiftung oder eine Explosion.

2Von der Küche aus ging es in Großmutters „Stubb“, das einzige verbliebene Zimmer. Es gab von der Treppe aus noch eine Art Kellerraum, der war aber notdürftig ausge-baut und dort stand das Bett meiner Groß-mutter. Heizbar war dieser Raum nicht. Küche und Stubb hingegen wurden von einem kleinen Kohleofen erwärmt.

(Vielleicht ist auch das ein Grund, warum dieser Abschnitt „Im Rausch“ heißt; ich habe meinem blinden Vater – in Lederhose hinter mir – das Bier stiebizt und leere den Krug, neben meinem Vater sein Bruder Engelbert, rechts im Bild Oma Gunkel und Engelberts Tochter Gitti)

Am schlimmsten war es, wenn man auf die Toilette musste. Es gab nämlich kein WC. Statt dessen musste man das Haus verlassen und aufs „Häuschen“, was ein Verschlag direkt neben dem Hauseingang war. Dieses Häuschen hatte kein Fenster und nur eine alte, wacklige Tür aus Holz mit einem Loch, durch das Licht herein kam. Der hintere Teil des kleinen Raumes bestand aus rot gestrichenem Sitz-Holz mit einem Loch von etwa 30 cm Durchmesser. Dort musste man seinen Hintern drauf platzieren und konnte sich dann in das Loch erleichtern. Natürlich stank es furchtbar nach Salmiak und Exkrementen, außerdem tummelten sich hier riesige Mengen Fliegen, von denen es zahlreiche auch in die Wohnung schafften, um sich dort am Marmeladenbrot zu laben. Von der Decke hingen spiralförmige Klebestreifen, die die Fliegen anzogen. Sie klebten dort mit ihren Flügeln oder Füßen fest und zappelten sich zu Tode.

omas

Als ich ungefähr vier Jahre alt war, durfte ich zum ersten Mal übers Wochenende allein zur Großmutter, die ich damals noch „Oma Gunkel“ nannte. Meine Mutter brachte mich bis zum Anfang der Straße „Im Rausch“, die letzten etwa 400 m auf der schlag- lochreichen Straße ging ich allein mit meinem kleinen Köfferchen in der Hand und fühlte mich sehr erwachsen, durfte ich doch zum ersten Mal allein in den „Urlaub“. Herrlich: es war Herbst und die Trauben, die den Gang von Hoftor bis zum Haus säumten, waren reif. Allerdings musste man sich vor den Wespen hüten. Alle Trauben waren entweder noch furchtbar sauer oder bereits von den Wespen angefressen.

Meine beiden Großmütter im Garten im Auwanneweg:
links die „liebe Großmutter“ (Frieda), rechts Oma Gunkel, das Foto entstand 1966)

Hinter dem Tor war ein kleiner Weg und dann kam ein Bretterverschlag, denn mein Onkel Engelbert, der im Krieg ein Bein verloren hatte, hatte sich für den Weg zur Arbeit ein Auto gekauft. Natürlich nicht so ein teures und luxuriöses wie ein Käfer oder eine Ente. Sein BMW war vielmehr ziemlich klein. Vorne war es immerhin ungefähr einen Meter breit, hinten deutlich schmaler. Die Reifen hatten einen Durchmesser von etwa 30 cm und standen vorn weit auseinander, während sie hinten nur etwa 30 cm voneinander entfernt waren. Das Fahrzeug war ein Eintürer. Die Tür war vorn, und wenn man sie öffnete, verwunderte vor allem die Tatsache, dass das Lenkrad an der Tür hing und sich damit vom Fahrersitz entfernte. Der Fahrersitz nahm die ganze Breite des Autos ein. Und wenn man die Lehne nach vorn klappte, konnte meine Tante über diese steigen und sich auf den hinteren, wesentlich schmaleren Platz setzen. Das ging ganz gut, denn Tante Ilse war sehr dürr. 

Ich war gern bei der Oma Gunkel, denn hier durfte ich alles das, was ich zuhause nicht durfte, zum Beispiel zwei Stück Kuchen essen – oder, wenn ich wollte, sogar drei. Und das Tollste war: ich durfte nicht nur – wie zuhause – jeden zweiten Tag 20 Min. Fernsehkinderstunde schauen, sondern am Samstag das ganze Abendprogramm, und das ging bis halb elf! Natürlich gab es nur einen Fernsehsender, aber samstags gab es sogar ein durchgehendes Nachmittagsfernsehen ab 16 Uhr. Irgendwann schlief die Oma dann ein und schnarchte vor sich hin, ich aber hörte mir sogar noch das Wort zum Sonntag an und bestaunte hinterher noch eine Zeit lang das Testbild der ARD, bis schließlich auch das erlosch. Oma machte mir dann mein Bettchen auf dem Sofa zurecht und begab sich in den Schlafkeller.

Und was das Allerbeste war: wenn mein älterer Cousin Walter (der aus Szene 009: „Ein ganzer Kasten Bier“) dabei war, büchsten wir aus und durchstöberten das Mississippi, ein entlegenes urwüchsiges Gelände zwischen den auseinander trifftenden Gleisen im Bahnhofsvorfeld. Um dorthin zu gelangen musste man heimlich mehrere Gleisstränge überschreiten, was natürlich streng verboten war. Dort gab es Hecken, mannshohes Gras, einen Tümpel und Wildtiere – Abenteuer pur. Man durfte sich nur nicht von der Bahnpolizei erwischen lassen – und nicht von der Oma Gunkel, sonst gab´s Fernsehverbot. Vermutlich sind wir nie erwischt worden, denn ich kann mich an kein einziges Fernsehverbot erinnern.


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