Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 20.1.2020

Szene 55 – Aspirin – etwa 1982


Ich wachte auf, als der Wecker klingelte, 20 nach 6, aber ich fühlte mich nicht erholt. Das war nicht verwunderlich, es war wieder halb zwei, als ich zu Bett gegangen war, und

ich hatte, wie bei mir damals üblich, eine ganze Menge getrunken, hatte das Alt-Auheim erst verlassen, als der Wirt um 1 h die letzten Gäste – also eigentlich nur noch mich – heraus komplimentierte. Allerdings hatte ich auch – wie das damals so meine Sitte war – vor dem Zubettgehen noch zwei Kopfschmerz- tabletten eingeworfen, um morgens nicht allzu verkatert zur Schule fahren zu müssen.

Dennoch, heute war irgend etwas anders. Ja, die Kopfschmerzen waren nicht oder doch nur rudimentär vorhanden. Dass ich sehr müde war, war keineswegs ungewöhnlich, während der Schulwoche dauerten meine Nächte nicht länger als höchstens fünf Stunden und sicher war mein Schlaf alkoholbedingt nicht besonders erquickend. Doch an diesem speziellen Tag fühlte es sich anders an. Ich kam mir irgendwie leicht aufgeblasen vor, und meine Hände fühlten sich merkwürdig fremd an, so als sei ich noch deutlich dicker als ich es sowieso schon war. Mein Gewicht lag damals eher bei 90 als bei 80 kg und ich maß nicht mehr als 170 cm. Dass der Hosengurt arg spannte, wenn ich den Hosenbund schloss, war normal, aber heute schien er noch deutlich enger.

Der Blick in den Badezimmerspiegel zeigte mir ein aufgedunsenes, rötliches Gesicht. War das deutlich schlimmer als sonst, oder wurde ich dessen nur jetzt erstmals Gewahr? Als ich die Schuhe anzog japste ich, mein Bauch war mir im Weg. Außerdem schienen meine Schuhe enger geworden zu sein. Ich bemühte mich, sie zu binden, wozu ich die Luft anhalten musste, weil ich mit meinem Bauch und gefüllter Lunge unmöglich die Schnürsenkel erreichen konnte.

„Ich bin schon ganz schön kaputt!“ dachte ich mir, als ich ins Auto einstieg. Auch das Lenkrad schien heute bedrohlich nahe. Den größten Schreck aber bekam ich, als ich den ersten Gang einlegen wollte. Meine Rechte griff nach dem Schaltknüppel, ertastete ihn. Also zugreifen und schalten – aber was war das? Meine Hand konnte sich kaum schließen, die Finger waren geschwollen. Ich fuhr zur Schule. Das Lenkrad fühlte sich an, als sei es dick und warm ummantelt. Aber das, was da dicker geworden war, war nicht etwa das Lenkrad, es waren meine Finger.

Der Schulunterricht lenkte mich glücklicherweise von meinen aktuellen Problemen einigermaßen ab. Nur wenn ich die Seiten des Buches umblättern wollte, wurde ich mir der Ungeschicklichkeit meiner geschwollenen Hände bewusst, oder wenn ich etwas aus der Schultasche nehmen wollte, die neben dem Lehrertisch auf dem Boden stand und mir dabei die Körpermasse meines Rumpfes im Wege war.

In der Mittagspause hatte ich etwas mehr Zeit, auf mich zu achten. Mein Atem ging schwer, wie bei einem heftigen Asthmatiker. Ich schnappte nach Luft, hatte das Gefühl nicht genug Sauerstoff zu bekommen, meine Luftröhre schien mir aufgrund einer Schwellung verengt. Ich ging zum Sekretariat und meldete mich krank – für diesen Nachmittag und mindestens noch den nächsten Tag. Ich würde anrufen, wenn ich beim Arzt gewesen wäre. Die Sekretärinnen, die über mein Aussehen erschrocken waren, wünschten mir gute Besserung.

Das Problem beim Autofahren war nicht kleiner geworden, mein Bauch berührte das Lenkrad, meine Atmung ging schnappartig, meine kurzen Arme waren kaum in der Lage, das Lenkrad zu erreichen. Beim Schalten konnte ich die Hand nicht mehr schließen, musste den Schaltknüppel schieben, statt ihn zu ergreifen. Es fühlte sich außerdem an, als würden gleich meine Schuhe aufplatzen und mein Bauch den Hosengurt sprengen.

Zuhause angekommen rief ich in der Praxis eines Dermatologen an, sagte wie dringlich es ist, bekam einen Termin am Nachmittag. Ich legte mich aufs Bett, nachdem ich mich meiner Schuhe entledigt hatte – die Füße quollen geradezu heraus, und es sah aus, als würden sie nie, nie wieder in diese oder ähnliche Schuhe passen. Als ich den Hosenbund öffnete zeigte sich dezimeterdicke Einschnürungen im Bauchbereich. Hinlegen! Im Liegen ging es. Und nachdenken, refelektieren. Was war anders? Was kann der Anlass gewesen sein. Phänomene entstehen in Abhängigkeit von Ursachen. Mindestens eine verursachende Bedingung musste anderes gewesen sein als sonst. Hatte ich etwas anderes gegessen? Etwas anderes getrunken? War ich sonst einem ungewöhnlichen Einfluss ausgesetzt? Mir fiel nichts ein. Liegend und unausgeschlafen, wie ich war, wurde ich dösig.

Meine liebe Großmutter saß auf einem Stuhl in der Küche, hatte sich ein Fußbad gemacht. Ihre Füße waren seit zwei, drei Tagen geschwollen. „Warum wird das bei all der Pflege nur immer schlimmer statt besser?“ fragte sie sich laut, als meine Mutter ihr wieder die Füße eincremte. Und – als würde sie eine dunkle Ahnung an etwas gemahnen – riss sie plötzlich die Augen auf und sagte: „Ruth, gib mir doch einmal die Verpackung von der Salbe.“

Meine Mutter tat, wie ihr geheißen, und Großmutter fingerte nach ihrer Lesebrille. „Ja, natürlich, hier steht ́s ja: da ist Salicyl drinne, Ruth, hör sofort damit auf, ich bin doch algerisch!“ (Sie sagte wirklich: algerisch, nicht allergisch.)

In diesem Moment wachte ich auf meinem dösigen Halbschlaf auf. Das kann es sein! Meine vor zwei Jahren verstorbene Großmutter hatte eine Allergie, und Allergien vererben sich häufig in der zweiten Generation! Meine Großmutter hatte auf die salicylhaltige Salbung in ihrer Füße mit geschwollenen Füßen reagiert. Ich hatte eine Schwellung meines ganzen Körpers, also muss mein ganzer Körper mit einem Allergen in Kontakt geraten sein. `Die Kopfschmerztabletten!` durchfuhr es mich, das einzige was anders war, war dass ich meine Paracetamoltabletten nicht finden konnte, und so hatte ich von Eleonores Tabletten genommen. Da lag die Packung: Aspirin. Ich las die Inhaltsstoffe, aha: Aspirin ist reine Acetylsalicylsäure (ASS).

Als ich zwei Stunden später beim Arzt war, schilderte ich ihm die Phänomene und meine Diagnose: ich nehme an, dass es sich um eine Acetylsalicylsäuren-Allergie handelt. Er fragte, wie ich darauf käme, und ich erzählte es ihm.

Der Arzt hörte es sich an, antwortete, das klänge logisch und könnte gut so sein. In diesem Fall würde die Symptome aber 10 bis 15 Stunden nach der Einnahme ihren Höchststand erreicht haben und in drei bis vier Tagen verschwunden sein. Wunderbarerweise verschrieb er mir kein Mittel, sondern gemahnt mich nur, ASS in Zukunft zu meiden. Er gab mir ein Blatt mit Hinweisen, wo überall ASS enthalten sein könnte – z. B. in Gemüsekonserven und in Pflaumenkuchen aus Großbäckereien, denn ASS würde auch als Konservierungsmittel verwendet.

Tatsächlich waren nach drei Tagen alle Symptome verschwunden und ich habe künftig darauf geachtet, ASS zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

Ich habe selbstverständlich niemals wieder Aspirin genommen, lediglich zweimal gab es noch Probleme, wenn auch in kleinerem Maße. Einmal ausgrechnet auf einer Landesmitgliederversammlung der Grünen einige Jahre später. Ich nahm an, dort seien die Lebensmittel höchst unbedenklich und ökologisch und war daher so unvorsichtig mir ein Stück Pflaumenkuchen zu gönnen. Aber der Kuchen war von der örtlichen Bäckerei geliefert und offensichtlich mit Salicylsäure konserviert.

Noch einmal einige Jahre später wäre mir beinahe das gleiche passiert. Ich war bei Eleonores Patentante, die selbstgebackenen Pflaumenkuchen hatte. Ich bekam ein Stück und fragte reflexartig: „Ich nehme an, da ist keine Salicylsäure drin.“

Doch, natürlich, auf Pflaumenkuchen macht man immer Salicylsäure, sonst hält er sich ja nicht.“ - Man kann gar nicht vorsichtig genug sein bei Lebensmitteln und insbesondere bei Arzneimitteln.

Ein Viertel Jahrhundert nach dem denkwürdigen Erlebnis mit Aspirin habe ich mir erstmals wieder von jemandem Tabletten geliehen, von meiner damaligen Freundin – ich nenne sie hier jetzt Sandra. Sandra gab mir ihre Packung Ibuprofen. Ich las sorgfältig die Packungsbeilage durch – kein ASS drin. Also absolut ungefährlich – dachte ich. Glücklicherweise waren die dann entstehenden Schwellungen weniger stark und auch nicht flächendeckend, sondern nur punktuell.

ass3

Allerdings hat Sandra sie fotografiert, hier ein Bild aus dem Jahr 2005.


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