Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 20.1.2020

Szene 51 – Buddhistisches Wandern



Diese Szene entstand während meiner Pilgerwanderung Richtung Indien im April 2011 hinter Donauwörth (auf der 18. Etappe, also nur etwa 420 km nach Beginn dieser Wanderung). Sie beschäftigt sich mit der Reflexion über zwei buddhistische Begriffe und ist damit symptomatisch für das Reflektieren dieses Pilgers auf dem Pfad des Buddha. Sie beschäftigt sich aber auch mit Meditation: mit Gehmeditation. Hier Auszüge aus meinem Wandertagebuch:

Dies war der von der Strecke her wohl langweiligste Tag meiner diesjährigen Pilgerwanderung. Wobei das Adjektiv „langweilig“ – wie eigentlich die meisten Betrachtungsgegenstände zwei unterschiedliche Qualitäten hat, die man mit den Palibegriffen adinava und assada bezeichnen kann. Adinava ist der niedrige, unschöne, ja widerwärtige Aspekt von etwas, während assada dem gleichen Betrachtungsobjekt seine reizvollen, attraktiven Qualitäten abgewinnen kann.

So assoziiert man z. B. Regenwetter – ein Aspekt, der mir in den 15 Tagen meiner österlichen Wanderung von Rothenburg ob der Tauber bis Garmisch-Partenkirchen überhaupt kein Problem machte, es war fast die ganze Zeit trocken – beim Wandern eher negative Aspekte: „Scheißwetter“, also den adinava-Aspekt. Man könnte natürlich auch den assada-Aspekt in den Vordergrund stellen: herrlich, die Natur wird zu neuem Leben erweckt, die Pflanzen bekommen den für sie notwendigen Regen. Die Trinkwasservorräte in dieser Weltgegend werden aufgefüllt, es wird kein Mangel an Wasser herrschen! Aber da wir immer gerne den Abneigungsgedanken in den Vordergrund zu stellen gewohnt sind, betrachten wir die Dinge gewöhnlich unter dem adinava-Aspekt: „ich hasse es, wenn es regnet“, und verstärken so in uns das Gefühl der Abneigung, der Ablehnung, des Hasses, was uns nicht gerade fröhlicher macht. So dumm ist der puthujjana (der Palibegriff wird oft als „gemeiner Weltling“ übersetzt) nun einmal.

Ein schönes Beispiel dafür, wie man den assada-Aspekt mehr in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen kann, liefert der Buddha in folgender Geschichte. Er traf einst am Abend auf drei Mönche, die eine lange Wegstrecke zurückgelegt hatten, und sie beklagten sich furchtbar über diesen Tag: „Ach, Erhabener, das heilige Leben kann ja so schrecklich sein, wir sind den ganzen Tag gewandert von früh auf und haben kein einziges Dorf angetroffen, d. h. wir sind heute ohne Almosenspeise geblieben, und jetzt, zu dieser Zeit nach der Mittagsstunde, dürfen wir nichts mehr essen, wie es die Mönchsregeln verlangen,“ so klagte der erste Mönch und der zweite setzte hinzu: „Das ist noch nicht einmal das Schlimmste, aber diese Hitze, von früh morgens an schon unglaublich heiß, und weit und breit kein bisschen Schatten, wir mussten über 30 km in sengender Hitze wandern“, woraufhin der dritte Mönch ergänzte: „Das ist noch nicht einmal das Ärgste, aber stell Dir vor, Erhabener: kein Wasser, kein Tropfen Wasser, den ganzen Tag bei dieser Hitze nichts zu trinken, kein Bach, kein Fluss, kein Brunnen, nichts! Und das bei dieser Gluthitze und dieser total staubigen Straße, die Kehlen sind uns ausgedörrt und es begannen sich schon Halluzinationen einzustellen.“

Der Buddha aber sagte: „War das alles? Ihr habt gar nichts von den Mücken gesagt, von diesen riesigen Mückenschwärmen, die euch verfolgten, bissen, euer Blut aussaugten und dem schrecklichen Jucken dieser Tausenden von Mückenbissen, die euch fast zum Wahnsinn trieben.“

„Aber Erhabener,“ ergänzte da einer der drei Mönche, „da waren keine Mücken, Mücken kann es ja nur geben, wo Wasser ist, an Teichen, an Tümpeln, bei Brunnen. Es gab ja kein Wasser, und deshalb mussten wir ja so leiden, nichts zu trinken, kein bisschen Erfrischung.“

„Ach“, sagte der Buddha und lächelte dabei: „Dann habt ihr sicher den ganzen Tag über die assada-Qualitäten dieser Wegstrecke gepriesen: Herrlich keine Mücken, keine Stiche, nicht dieses entsetzlich Jucken auf der Haut, gut dass bei diesem Wetter hier kein Wasser ist, keine Tümpel, die Mücken würden sich sonst unerträglich vermehren, ein herrlicher Tag, nur Sonnenschein!“ Beschämt zogen die Mönche von dannen, hatte sie doch der Buddha darauf aufmerksam gemacht, wie töricht ihr Denken war, und sie gelobten Besserung.

Bevor ich auf die assada- und die adinava-Qualität dieses Tages zurückkomme, etwas zum Verlauf des Weges. Ich hatte die Wegstrecke im Wörnitztal beendet, dem ich seit dem elften Tag meiner Pilgerwanderung gefolgt war, und habe in Donauwörth die Donau überquert. Der später so mächtige Strom ist hier noch ein kleines Flüsschen.

Von nun an sollte ich für einige Tage ein weiteres Tal durchwandern, das Lechtal, dessen südlicheren Teil, also ab Augsburg, man das Lechfeld nennt. Das ganze Lechtal ist ein sehr breites, fruchtbares Tal, man kann schon eher von einer Ebene sprechen; allenfalls sehr weit entfernt vermag man Mittelgebirge oder kleine, bewaldete Höhenzüge erkennen. In dieser Ebene, in der Ackerbau und gelegentliche Wiesen einander abwechseln, häufig auch unterbrochen durch Sonnenkollektor-Felder, fließt der Lech, geht die Bundesstraße 2 entlang und wanderte auch ich auf Feldwegen dahin; die Dörfer haben so einfallsreiche Namen wie Ostendorf, Nordendorf oder Westendorf.

(...)

Doch zurück zu den assada- und adinava-Qualitäten. Ausgangspunkt meiner Überlegung war die Tatsache, dass dies wohl ein sehr langweiliger Tag würde, immer durch die Ebene auf Feldwegen entlang zu gehen. Aber natürlich hatte dieser Tag viele assada-Qualitäten, denn bei Sonnenschein zu wandern, nicht allzu heiß, aber auch nicht zu frisch, ist natürlich recht angenehm. Dennoch war da ein Geschmack von Langeweile, denn ich wanderte ja nunmehr schon seit vielen Tagen bei gutem Wetter, und des Menschen Geist ist so, dass er nach Abwechslung sucht, und dazu ist ein 24 km langer Feldweg unterbrochen durch einige Dörfer, die nur Schlafstätten für Auspendler zu sein scheinen, nicht die allerbeste Grundlage.

An diesem Tag schaltete ich daher von der Betrachtung des Äußeren auf die Betrachtung des Inneren um. Wie fühlt sich „gehen“ an. Ich wandelte mein Wandern in eine Gehmeditation, und zwar nicht nur für kurze Zeit, sondern über einen ganzen Tag. Man kann das Gehen in einer Art body-scanning durch den ganzen Körper verfolgen, angefangen mit den Empfindungen bei den Füßen, das Spiel der Gehmuskulatur in den Waden, den Kontakt zwischen Unterschenkeln und Hose usw. bis ich schließlich an meinem Kopf angelangt war und bei den Empfindungen, die mir meine Kopfbedeckung vermittelt, dem Gefühl des Schweißes, mit dem sich mein Hut allmählich vollsog, an den Stellen, wo dieser meine Stirn und meine Haare berührte.

Und auch andere Empfindungen, andere vedana, konnte ich betrachten: das negative Empfinden des Durstes beim Wandern in der Sonne. Jetzt nicht reagieren, nicht zur Wasserflasche greifen, um nur nicht diese spannende Betrachtung zu stören. Wie verändert sich der Durst? Je mehr Achtsamkeit ich darauf verwende, desto deutlicher verspüre ich ihn. Aber ist wirklich der Flüssigkeitsmangel die Ursache, oder meine Achtsamkeit auf den Durst – einfach weiter betrachten. Auch hier wieder das gleiche Muster, nach einiger Zeit wird es dem Geist langweilig, auf Durst zu achten, ein anderes Phänomen fängt meine Körperbetrachtung ein: eine durch meinen Rucksack verursachte Druckstelle. Interessant wie sich dieses Phänomen entwickelt, wenn ich nicht meinem reaktionären Impuls folge, den Rucksack zurecht zu rücken. Als ich feststelle, dass ich darüber meinen Durst vergessen hatte, der so schlimm gar nicht gewesen sein kann, holte ich meine Wasserflasche heraus und trinke etwas. Später dann das Gefühl der sich füllenden Harnblase. Mal sehen wie sich das entwickelt. Bestimmt wird der Harndrang mental bedingt dann stärker, wenn ich in einen Ort komme, also keine gute Gelegenheit besteht, mein Wasser abzuschlagen. Meine Vermutung war richtig! Im Ort steigt das Problem an, und es zeigt sich, dass Westendorf doch deutlich größer ist, als ich erwartet hatte. Toll: ein Problem tritt auf, die oben beklagte Langeweile ist weg! Zum Glück hatte das letzte Haus im Dorf eine Hecke hinter der ich geschwind verschwand. Welche Erleichterung, so schön kann achtsames Pilgern sein!

Die Art von Gehmeditation, auch von body-scanning und auch von Achtsamkeit auf die vedana, die Empfindung von positiv, negativ und neutral, die sich immer unwillkürlich zusammen mit einem Sinnenkontakt einstellt, war mein Joker für alle langweiligen Strecken auf dieser Wanderung. Drohte Langeweile, zog ich meinen Joker. Interessant ist auch das Nicht-Reagieren auf die vedana, also das Nicht-Greifen auf ein positives Empfinden hin, das Nicht-Verändern auf ein negatives vedana hin und die Betrachtung, ob und inwieweit sich die vedana verändern. Natürlich hatte an diesem Tag bei so viel Achtsamkeit kein Gedanke ans Fotografieren Platz (daher hier keine Bilder).

Nach meiner Rast in Meitingen ging ich also das letzte Stück, vielleicht drei Kilometer, bis zu meiner Übernachtungsstelle Erlingen. In meinen Gedanken war ich jetzt nicht mehr beim Gehen, sondern in froher Erwartung des Abends: wenn ich mein Zimmer bezogen habe, dann werde ich den Imbiss ansteuern und wenn der nix taugt: am Ortsausgang von Meitingen sind zwei Gasthöfe, ohne Gepäck bin ich in gut einer halben Stunde dorthin gelaufen und spätestens dort werde ich ein leckeres Abendessen bekommen, selbst vegetarisch dürfte kein Problem sein, es ist ja Karfreitag!

Ich habe das Haus gefunden. Die Imbissstube ist inzwischen eingestellt. Die Vermieterin ist eine sehr alte Frau, vielleicht achtzig Jahre, und sie vermietet üblicherweise an Monteure, die sind über Ostern weg, daher kann sie die Zimmer jetzt anderweitig vermieten. Mein Zimmer ist unter dem Dach, es gibt eine sehr steile Treppe dort hoch, die Frau zieht sich mühsam am Geländer hoch. Offensichtlich ist sie schwindelfrei. Ich nicht. Mühsam gelange ich nach oben, hechte von der Treppe weg. Diese Treppe hat mich mehr Schweiß gekostet als der Tag! Ich habe blitzartig umdisponiert: kein Gasthof, diese Treppe gehe ich nicht unnötig ein zweites Mal, lieber will ich mich von meinen Fingernägeln ernähren!

So weit zu den adinava-Qualitäten des Abends. Nun zu den assada-Aspekten. Toll, obwohl das Zimmer sonst von drei Monteuren bewohnt ist, keinerlei Zigarettengeruch. Mein Wasser ist aufgebraucht, aber direkt am Zimmer angrenzend ist eine kleine Teeküche. Und es gibt einen Fernseher. Karfreitag ist Feiertag – da gibt es bestimmt irgendwelche alten Spielfilme! Und siehe da, ich habe noch ein ganzes belegtes Brot übrig. Fernseher und Brot – panem et circenses – was braucht der Mensch mehr!

Nur ein Wermutstropfen bleibt. Wenn ich zur Toilette oder ins Bad will, muss ich direkt an der steilen Treppe vorbei und dann ergreift mich ein arges Schwindelgefühl. Bis zu meiner Abreise am Samstagmorgen (Frühstück bekomme ich hier keines) greift das Gefühl noch dreimal.

Das Bild zeigt den Schrecken von Erlingen: eine steile Treppe macht mir Angst, wann immer ich zur Toilette muss oder ins Bad, muss ich an diesem Schrecken vorbei. Ich habe sogar gecheckt, ob man vielleicht aus der Dachgaube in die Regenrinne…

Doch – nein - im Nachbargarten sitzen Leute.

Möge mir auf meiner Pilgerreise kein größerer Schrecken drohen als dieser!

Das wäre toll (assada-Aspekt des Schreckens).


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