Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 20.1.2020

Szene 50 - Nachts auf dem Friedhof meditieren



Der Buddha hat vor seiner Erleuchtung häufig auf Leichenfeldern meditiert und übernachtet, um sich der Vergänglichkeit tief bewusst zu werden und um dabei auch die eigenen Ängste zu überwinden. Leichenfelder sind allerdings mit unseren Friedhöfen nicht zu vergleichen. Zu Buddhas Zeiten war es in Indien üblich, die Toten zu verbrennen. Dazu wurde der Leichnam an einen Verbrennungsplatz gebracht. In dem Teil Indiens, in dem der Buddha lebte, lagen diese Plätze häufig an den Ufern des Ganges, der bei den Hindus als heiliger Strom gilt. Hier wurden dann Scheiterhaufen aus Holz errichtet, die Leiche darauf gelegt und im Beisein der Angehörigen verbrannt.

Menschen aus den unteren Kasten konnten sich jedoch häufig das relativ teure Holz nicht leisten - und vermutlich auch nicht die Gebühren der Brahmanen für die Durchführung der Totenzeremonie. Arme Leute legten daher ihre Toten außerhalb des Dorfes auf einem sog. Leichenfeld ab. Die Beseitigung der Leichen wurde dann auf natürliche Weise von Tieren vorgenommen: von Hyänen, Wölfen, Aasgeiern, Fliegen oder Würmern beispielsweise. Hier unternahm der spätere Buddha die Meditationen, die noch heute von einigen Theravada-Mönchen durchgeführt werden, und die als die “Zehn Stufen der Dekompostierung des widerwärtigen Objektes” bezeichnet werden. Diese gehen von der ersten Stufe, der bläulich verfärbten, teilweise aufgeplatzten, stinkende Flüssigkeit absondernden Leiche bis zur letzten Stufe, bei der nur noch einzelne unverbundene Knochen übrig sind, die bei Berührung zu Staub zerfallen: Asche zu Asche, Staub zu Staub, Erde zu Erde.

Vom Buddha und vielen anderen Meditierenden wurden die nächtlichen Leichenfelder jedoch auch aufgesucht, um sich den eigenen Ängsten zu stellen. Schließlich zerrten hier nicht nur Schakale und Koyoten an den Körpern der Toten und rissen Stücke heraus. Nein, es konnte auch ganz schön gespenstisch sein, wenn die Leichen nachts plötzlich zu glucksen anfingen, als würden sie einen auslachen, denn schließlich gärten Flüssigkeiten in ihnen, und auch Gase bildeten sich, sodass es sein konnte, dass durch Gase aufgeblähte Gliedmaßen sich bewegten und dabei Laute hervorbrachten, die wie ein Stöhnen klangen. Gase konnten sogar dazu führen, dass sich Leichen plötzlich aufsetzten, und erst, wenn die faulgasgefüllten Gefäße platzten, legte sich der „Zombie“ wieder hin.

Nun gut. Dagegen ist natürlich eine nächtliche Meditation auf einem deutschen Friedhof ein vergleichsweise idyllisches Unterfangen. Ich wollte aber auf jeden Fall ausprobieren, was eine nächtliche Meditation auf dem Friedhof mit mir macht. Und es zeigte sich, dass das eine wunderbare Idee war. Und da es nachts, wenn man lange im Freien sitzt, ganz schön kalt werden kann, entschied ich mich für eine Hochsommernacht. Und in einer warmen Julinacht des Jahres 2002 begab ich mich zu dem von meiner damaligen Wohnung aus nächstgelegenen Friedhof - nur etwa 300 m von meiner - Wohnung im Auwanneweg entfernt. Hier waren vom frühen 19. Jahrhundert bis 1957 die Großauheimer Beerdigungen vorgenommen worden. Mir war der Friedhof vor allem dadurch bekannt, dass ich in den 50er und frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts oftmals mit meiner lieben Großmutter hier war, die das Grab ihres Ehemannes Franz, der 1953 gestorben war, pflegte (vgl. die Szene 011 “Franz”).

Außerdem musste ich, als ich in Großauheim noch zur Volksschule (die ersten vier Schuljahre, das entspricht der heutigen Grundschule) ging, jedes Jahr im November bei Regen zum Volkstrauertag und/oder Heldengedenktag hierher. Der Pfarrer, Monsigniore Atzert, führte dann eine ätzende Zeremonie im nasskalten November an den Gräbern der “Helden” durch. Die dort liegenden Helden waren junge Männer - Teenager - von der HJ, die ihre Flak-Stellungen dort hattten, wo später die Nuklearbetriebe waren. In den letzten Kriegstagen haben sie von dort aus versucht, die Amerikaner mit Artilleriefeuer am Überqueren des Mains zu hindern. Die US-Soldaten glaubten, das feindliche Feuer käme aus Großauheim und wollten den Ort bombardieren lassen, um den Feind (incl. der Zivilbevölkerung) auszumerzen.

Der frühere Bürgermeister von Großauheim (aus den 20er Jahren), Rudolph Weber, überquerte jedoch den Main mit einem Nachen und einer weißen Fahne, um den GIs mitzuteilen, woher das Feuer wirklich käme. Er konnte die Soldaten überzeugen und so wurde das Dorf Großauheim nicht zerstört (andernfalls gäbe es mich wohl nicht), bombardiert wurden nur die Stellungen mit den halbwüchsigen Soldatchen, die bereit waren, jeden Meter deutschen Bodens mit ihrem Leben zu verteidigen. Und an deren Gräbern gedachten wir dann dieser “Helden”. Die 50er und 60er Jahre hatten schon merkwürdige spät-nazistische Auswüchse.

Und an diesem Ort, wo mein Großvater und die armen verblendeten Jugendlichen lagen, wollte ich also meditieren, eine ganze Nacht hindurch. Ich begab mich dementsprechend mit zwei Meditationskissen, einer Decke und einer dicken Jacke für die Nacht um 21 Uhr abends auf den inzwischen teilweise abgeräumten Friedhof. Fast alle früheren Grabsteine waren verschwunden, bis auf ganz wenige historische am Rand, die Gräber waren zu Rasen eingeebnet worden. Lediglich die Gräber der “Helden” waren noch sichtbar. Das Bild unter zeigt den früheren Friedhof heute.

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Ich baute mir einen Meditationssitz an einer Bank nahe der Stelle, wo Franz lag, auf. Zunächst setzte ich mich jedoch noch andächtig auf die Bank. Es war erst kurz nach 21 Uhr, noch nicht dunkel, und Menschen führten ihre Hunde spazieren. Es kam mir merkwürdig pietätslos vor, wenn die Hunde auf die ehemaligen Gräber pissten. Andererseits: wo auf der Welt besteht der Boden nicht größtenteils aus Leichen? Die Erde ist voller toter Menschen, Tiere, Pflanzen und voller Insekten und Würmer, die den organischen Recyclingprozess vollziehen. Ich saß also dort auf der Bank und wollte, solange hier noch Leute herumliefen, nicht als Meditierender kenntlich sein; so saß ich und blickte stumm auf den Totenacker.

Dort hinten, hinter der Mauer, war früher ein kleines Gräberfeld in nichtgeweihter Erde. Hier wurden die begraben, die nicht der Gnade des christlichen Gottes teilhaftig werden konnten, Selbstmörder zum Beispiel und Heiden. Meine kleine namenlose Cousine lag auch dort. Sie war kurz nach dem Krieg geboren worden, in der Hungerzeit, und sie starb kurz nach der Geburt, ungetauft, mit der Erbsünde belastet, ohne Chance aufs Himmelreich und auf Seligkeit, vielmehr verdammt zu ewiger Hölle, und so musste sie dort in ungeweihter Erde begraben werden. Ich habe ihr Grab nie gesehen. Man ging dort nicht hin. Zu den Gottlosen. Dort wollte kein anständiger Christenmensch gesehen werden. So war das damals in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mitten in Deutschland noch immer.

Etwa gegen 23 Uhr verschwanden ziemlich plötzlich alle Menschen und Hunde. Jetzt war es wirklich dunkel. Naja, ganz dunkel ist es in der Stadt natürlich nie. (Das frühere Dorf Großauheim war 1956 zur selbstständigen Stadt und 1974 zu einem Stadtteil Hanaus geworden.) Nicht nur der Mond und die Sterne spendeten Licht, auch von den benachbarten Straßen und der Bahnstrecke drang Helligkeit auf den Friedhof. Abgesehen von den Zügen war es jetzt wirklich friedlich hier. Ich genoss die Ruhe, soweit es Ruhe gab. Ich wusste bis dahin nicht, wie laut es sein kann, wenn es ganz leise ist.

500 m entfernt war der Main. Das Tuckern der Schiffe, die offensichtlich (offenhörbar!) die Nacht durchfuhren, war deutlich zu hören. Ab 23 Uhr flogen jedenfalls fast keine Flugzeuge mehr den Frankfurter Flughafen an. Aber nicht nur die Züge der angrenzenden Bahnlinie waren zu hören, sondern auch die auf der Bahnstrecke Hanau - Fulda, die doch volle 3 km entfernt war. Und selbst das gleichförmige Rauschen des Verkehrs auf dem Autobahnkreuz von Hanau, 4 km entfernt und versteckt im Wald, lärmte in meinen Ohren.

Es dauerte lange - ca. eine Stunde - bis ich mich an diese Hintergrundgeräusche gewöhnt hatte. Seit 23 Uhr, seit die Hunde mit ihren Menschen verschwunden waren, saß ich jetzt auf dem Meditationskissen und nicht mehr auf der Bank. Allmählich legte sich die Schwere der Nacht auf den Ort und auf meine Glieder. Mitternacht war vorbei, und ich bemerkte, wie ich sehr müde wurde. Mit Sicherheit würde ich hier nicht die ganze Nacht dem Schlaf trotzen können. Wie wäre es also mit einem kurzen, erfrischenden Schlaf? Danach könnte ich mich mit neuen Kräften meiner gewählten Herausforderung stellen!

Vielleicht sollte ich mich auf die Bank legen? Ich blickte mich um. Dort die Tanne kannte ich noch von früher, inzwischen war sie natürlich sehr viel größer. Das zweite Grab rechts davon war das von Franz, von meinem Großvater. Es wäre doch sicher angemessen, mich zu meinem Großvater zu legen! Im letzten Jahr war ich 50 geworden, nie hatte ich erwartet, so alt zu werden, war immer davon ausgegangen, kurz vor der Jahrtausendwende zu sterben (vgl. Szene 043 - Nachspielzeit). Also: eigentlich gehöre ich schon zu Franz auf den Friedhof! Lächelnd legte ich mich neben meinen Vorfahren. Ich lag auf der rechten Seite, die Hand stützte den Kopf ab, so wie der sterbende Buddha abgebildet wird. Und ich blickte auf das Gras, das sich dort befand, wo ich früher mit meiner lieben Großmutter das Grab gepflegt hatte. Es war ein sehr familiäres Idyll!

Doch dort vor mir war das Gras plötzlich verschwunden, kein bisschen grün mehr. Alles weg, kaum dass ich mich hingelegt hatte. Aber es wunderte mich keineswegs. Genau so musste es sein. Da, neben mir, war jetzt das offene Grab. Und dort untenfr der Sarg meines Großvaters. Der Sarg war offen. Aber es war doch nichts von wegen Leichenfeldbetrachtung am widerwärtigen Objekt, mein Großvater war keineswegs widerwärtig, er war ein befremdlicher, aber liebenswerter alter Gesell. Großvater sah genau so aus wie auf dem einzigen Bild, das uns beide zusammen zeigt. Franz öffnete die Augen etwas und sah mich an – und ich sah ihn an – genau wie vor exakt 50 Jahren. Etwas befremdet, etwas skeptisch, aber mit großer Bereitschaft, uns aufeinander einzulassen.

Ein Wiedersehen nach einem halben Jahrhundert. Und es entspann sich ein ungeheuer intensiver Dialog zwischen uns beiden, ein Dialog, der nicht mit Worten geführt wurde. Wir sahen uns einfach an, blickten uns ganz tief an – und verstanden. Franz sah mein Leben, und er wusste. Ich sah sein Leben, und ich verstand. Leben ist – wie alles abhängig Entstandene – in Abhängigkeit von Bedingungen entstanden. Nicht, dass wir keinen freien Willen hätte, nein: unsere Entscheidungen treffen wir selbst, aber die Bedingungen, unter denen wir unsere Entscheidungen treffen, nicht. Da war ein tiefes Verstehen - nicht wie ein Verstehen von zwei getrennten Bewusstsein, sondern da war keine Trennung mehr zwischen ich und du, zwischen Horst und Franz, sondern da war ein Bewusstsein um das Entstehen in Abhängigkeit. Es war dies ein Verstehen, das sich nicht in Worte fassen lässt, daher will ich es auch gar nicht erst versuchen. (Vielleicht ist dir in der Szene 0, dem Vorwort, eine ziemlich unbegreifliche Äußerung zu Franz und dem Nationalsozialismus aufgefallen, die – wenn man sie liest – möglicherweise verstörend wirkt. Sie ist Ergebnis dieser wortlosen Kommunikation, dieses tiefen Verstehens.)

Ich weiß nicht, wie lange unsere Begegnung dauerte. Es kann nicht allzu lang gewesen sein, sicher nicht länger als eine halbe Stunde – aber lang genug, um ein ganzes langes Leben zu sehen, zu verstehen, zu begreifen. Niemals zuvor habe ich an einem Tag so viel gelernt wie in dieser Geisterstunde im Juli 2002.

Aber obwohl wir uns ohne Worte unterhielten, schien es mir doch, als würden sich die anderen Leute von unserem Gespräch gestört fühlen, die anderen toten Leute, die hier überall lagen, und die doch nur ihren Frieden und ihre Ruhe wollten. Und ich hatte das Gefühl, als ob der, der in Grab hinter mir läge, mich auf die Ungebührlichkeit meines Verhaltens aufmerksam machen wollte. Mir war, als wüchse seine Hand aus dem Grab heraus, um mich auf die Schulter zu tippen und zu sagen: „Ietzt lass mal gut sein, Junge!“h

Und genau in diesem Augenblick spürte ich tatsächlich, wie sich von hinten eine Hand auf meinen Rücken legte! Nie zuvor in meinem Leben habe ich mich – von Entsetzen gepackt – so schnell herum- gedreht! - Und damit jetzt meinerseits jemandem einen großen Schrecken eingejagt: der Katze, die ihre samt-weichen Pfoten auf den auf Gräbern Schlafenden gelegt hatte. Entsetzt sah sie mich an, als sei sie geschockt, dass ich lebe. Und nach der Schreck- sekunde suchte sie hurtig und mit großen Sprüngen das Weite.


Mir war jedoch das Entsetzen genauso in die Glieder gefahren wie dem armen Tier. Das aber hatte einen ungemeinen Vorteil: Meine Müdigkeit war jetzt vollkommen verflogen. Also setzte ich mich wieder in Meditation. Und ich saß in der Meditation, wie das so meine Art ist, mit offenen Augen da. Nichts betrachtend, nichts beobachtend, nichts fixierend, einfach präsent im Hier und Jetzt. Ich absorbierte die Stimmung. Es war eine milde Sommernacht und auch die oben beschriebenen Hintergrundgeräusche waren keineswegs verstummt, ich hatte sie lediglich als zu diesem Ambiente gehörend akzeptiert und so waren sie aus dem Fokus meiner Achtsamkeit entschwunden und nur noch peripher in der Breite meines Hierseins vorhanden.
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Vergänglichkeit war mein Thema und sollte mein Thema sein. Doch in dieser Vergänglichkeit war gleichzeitig ein Nachhall des Gewesenen. So wie Franz, mein Großvater, schon seit einem halben Jahrhundert tot war, sein Körper sich längst aufgelöst hatte, so hatte sich doch gerade in meinem Bewusstsein der Nachhall seines Seins gezeigt. Franz war tot, war vermodert – und doch lebte er in mir weiter. Ich hatte in dieser Zeit Empfindungen verspürt, die die Empfindungen von Franz waren. Ich hatte eine Wahrnehmung von vergangenen Geschehnissen, die seine Wahrnehmung war. Und ich spürte auch die Gestaltungskräfte, die mich in unterschiedlichste Bürgerinitiativen, in die Politik und zum Dharma brachten, als nicht fremd von Franz´ Gestaltungskräften, die ihn in Vereine, in die NSDAP führten und die ihn zum Anhänger des Dalai Lama (Bild: der 13. Dalai Lama 1876-1933) werden ließen.

Vergänglichkeit fühlte sich anders an als erwartet. Ja, da war viel vergangen, aber das Vergangene hatte auch eine ungeheure Präsenz.


Aber das Thema war nicht nur anicca, Vergänglichkeit. Je länger die Nacht dauerte, desto mehr drängte sich ein anderes Phänomen auf, das zweite der drei lakṣaṇas, der drei Daseinsphänomene die zu transzendieren BuddhistInnen sich bemühen: dukkha. Allerdings nicht dukkha, so wie ich es gewöhnlich beschreibe, wenn ich mich bemühe die deutsche Bedeutung wieder zu geben; ich sage dann: „das letztendlich nicht vollkommen Zufriedenstellende“. Die traditionelle Übersetzung von dukkha ist jedoch: Leiden. Und dieses abgrundtiefe Leiden, das kommunizierte sich mir jetzt. Ich saß noch immer mit offenen Augen da. Und in diesem Friedhof gab es auch Bäume, ziemlich am Rande waren sehr große, alte Bäume. Und gerade so wie man vielleicht in Wolken, wenn man sie nur lang genug betrachtet, ein Bild, ein Tier oder etwas anderes zu erblicken glaubt, so sah ich in dem einen großen Baum vor mir einen Totenschädel, einen aschfahlen Schädel mit tiefen schwarzen Augenhöhlen. Der Unterkiefer fehlte und die Zahnreihe des Oberkiefers war ziemlich lückenhaft, das Nasenbein schien gebrochen zu sein. Merkwürdig, höchst merkwürdig. Und der andere Baum, links daneben: ein grauenvoll schmerzverzerrtes Gesicht, abgrundtiefen Kummer beklagend.

Alle Bäume schienen Verkörperung des Leidens zu sein, aber diese beiden altenbaum Bäume drückten das am besten aus. Und da wurde mir klar: diese Bäume stehen seit über 100 Jahren hier. Sie haben sich in dieser Zeit entwickelt. Sie bestehen aus Kohlenstoff, den sie aus der Luft absorbiert haben, sie bestehen aus Wasser, das hier herabregnete, und – ja – sie bestehen aus all den Leichen, die sie hier in mehr als 100 Jahren aufgenommen haben, und aus dem darin gespeicherten Leid. So saß ich inmitten des Leidens Abertausender von Großauheimern, von Menschen die im deutsch-französischen Krieg kämpften, Industriearbeitern die in den Groß- auheimer Industriebetrieben des Frühkapitalismus ausgebeutet wurden, Menschen des ersten Weltkrieges, Menschen, die ihr Hab und Gut in der Hyperinflation der 20er Jahre verloren, unzähligen Arbeitslosen der Weltwirtschaftkrise und ihrer Familien, Menschen, die Opfer der Nazizeit wurden und die den zweiten Weltkrieg und die folgende Hungersnot erlitten, Opfer ungezählter Familientragödien.

Und diese Bäume hatten das alles mit den Toten aufgenommen. Kein Wunder, das sie zu dukkha-Bäumen geworden waren.

Aber warum konnte ich das jetzt, in den frühen Morgenstunden alles sehen? All das, was ich gestern abend, als ich hergekommen war, nicht wahrnehmen konnte?
Die Meditation hatte etwas mit mir gemacht - die Meditation und dieser wunderbare Platz zum Meditieren. Dieser Platz und ich, wir hatten genauso wortlos miteinander kommuniziert, wie zuvor Franz und ich. Und ebenso, wie ich vorher die Präsenz von Franz in mir wahrgenommen hatte, so nahm ich inzwischen diesen Ort und die Geschichte dieses Ortes in den letzte knapp 200 Jahren wahr.

Da ist kein abgetrenntes Ich, das sich wahlweise manchmal „Horst“ und manchmal „Der Mensch“ nennt und eine andere Person namens Franz. Genauso wenig, wie dieser Platz, dieser Friedhof, dieses heilige Mandala, dieser Leichenacker und ich nicht verschieden sind, sondern wie wir einander durchdringen. So wie ich Teil der Geschichte dieses Ortes namens Großauheim bin und wie Großauheim Teil von mir ist. Ein erster schaudernder Eindruck des dritten lakṣaṇas, von anatta, von Nicht-Ich eröffnete sich mir in dieser Nacht, für die ich unendlich dankbar bin.

Allmählich schmerzte mein Rücken stärker und die Beine taten mir mehr und mehr weh. Und so sagte ich mir, dass es jetzt, es war etwa 4.30 h, Zeit war, dieses unglaublich tief-gründige Erlebnis zu beenden – bevor ich ganz mit diesem geheimnisvollen Ort, diesem Leichenacker, eins geworden sei.

Danke, Franz!
Danke, Alter Friedhof von Großauheim!
Danke euch, ihr dukkha-Bäume!

Und auch schönen Dank an die Katze der Wachsamkeit!


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