Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 18.1.2020

Szene 41 – Amoghasiddhi stoppt Horst



Am 16. Juli 2016 erkläre ich meinen Freund/innen, warum ich meine Pilgerwanderung Richtung Bodh Gaya zumindest vorerst aussetze, mit diesem Schreiben:

Liebe Freundinnen und Freunde der Idee des Pilgerns,

keine Angst, das ist das einzige langatmige PilgerInfo, das ihr dieses Jahr von mir bekommt.

Im Vorfeld meiner diesjährigen Wanderung (Rest der Türkei und die Hälfte von Georgien) hatte ich leider erhebliche Probleme. Zwar habe ich jedes Jahr ziemlich Bammel vor dem, was ich mir da zugemutet habe, aber dieses Jahr war es sehr viel schlimmer. In den letzten zwei Monaten hatte ich erhebliche Schlafprobleme, bin fast jede Nacht schweißgebadet aufgewacht.

Ich sagte mir, das läge daran, dass ich mit Georgien erstmals in ein Land käme, in dem ich noch nie war und von dessen Sprache und Schrift ich keine Ahnung habe. Ich sagte mir, dass sicher auch Ängste hinzukommen, wegen meines bevorstehenden Umzugs nach Essen und wegen dem Einschnitt, den meine Pensionierung bedeutet.

Aber das waren Rationalisierungen, die Angst ging tiefer. Ich mochte es mir nicht eingestehen, aber ich hatte erstmals wirkliche Angst, nicht wieder zurückzukehren. Dafür gab es zwar keinerlei objektiv vernünftige Gründe, es gab nur diese – mir sonst sehr fremde – Angst. Am deutlichsten habe ich diese Befürchtung in einer Einladung an ein paar Freunde per E-Mail geäußert, der Titel der Mail war: „Sollte ich aus Georgien zurückkehren, gibt’s ´ne Feier!“ Das klang nach der mir eigenen Flapsigkeit, aber das war tatsächlich ernst gemeint. Todernst.

Um so gut wie möglich gewappnet zu sein, habe ich versucht technisch aufzurüsten. Hatte mir im letzten Jahr eine Handy-App geholfen, immer wieder zum Hinayana (Auto) zurückzukehren, so hatte ich diesmal nicht nur diese App dabei, sondern ein zweites Kartensystem auf dem Handy installiert, die beide über GPS offline erreichbar sind. Um im Notfall telefonieren zu können, habe ich mir eine türkische SIM-Karte fürs Handy besorgt, die eine Flat-Rate sowohl innerhalb der Türkei als auch nach Deutschland hat. Und da mir dergleichen für Georgien fehlt, habe ich mir noch tags vor der Abreise von meiner Tochter Tatjana Skype aufs Tablet machen lassen, sodass ich auch von Georgien aus, zumindest wenn ich einen W-Lan-Anschluss (in allen Hotels) habe, überall hin günstig telefonieren kann. Und für den Fall, dass das Tablet kaputt geht oder geklaut wird, habe ich im Hinayana noch ein zweites versteckt. Selbstverständlich hatte ich alle Systeme vorher ausprobiert, sie funktionierten. (Das einzige, was seit einer Woche nicht ging, war Whatsapp, aber darauf kann ich verzichten, wenn ich Telefon, E-Mail und SMS habe.) Ich war also so gut gerüstet, wie nur irgend möglich.

Und neben den technischen Absicherungen hatte ich mich auch immer wieder um spirituelle Rückendeckung bemüht. Die fünf Jinas, Personifizierungen trans-zendenter Kräfte, habe ich als Beschützer auch in der Vergangenheit angerufen. Eigentlich hat so die ganze Sache mit der Pilgerwanderung Anfang 2011 begonnen, vergleiche... (vgl. Szene 029 – Ein wahnwitziger Eid)

Auch am Freitagmorgen, kurz vor der Abfahrt, setzte ich mich in den Meditationsraum gegenüber dem Bild mit den fünf Jinas

jina

Das Bild zeigt den Pfad und die fünf jinas im Meditationsraum der Buddhistischen Gemeinschaft Gelnhausen, hier rief ich die Kräfte des Transzendenten an.

Es ist der Versuch genau diese Kräfte in mir zu stärken. Dies sind Kräfte, die in uns sind, die sich aber auch im Universum manifestieren. Die fünf Jinas sind gewissermaßen Verkörperungen, Projektionen unseres Geistes, die aber auch diese äußeren Kräfte symbolisieren. Meine Meditation ist also etwas zwischen Autosuggestion und Gebet zu diesen Kräften. Insbesondere Amoghasiddhi (und damit gutes Gelingen und Furchtlosigkeit) und Vairocana (Erkenntnis der Dinge, wie sie sind, und Weisheit) stehen heute im Mittelpunkt meiner Meditation. Weisheit ist ja, wie wir spätestens seit Franz von Assisi wissen, die Fähigkeit zwischen den Dingen, die wir ändern können, und denen, die wir erdulden müssen, zu unter-scheiden. So bitte ich um die Weisheit zu erkennen, wann Unerschütterlichkeit und Furchtlosigkeit angesagt sind, und wann etwas unsinnig ist und man es eher lassen soll. Ich spreche die transzendenten Kräfte an:

Ich habe Angst und weiß nicht, ob diese irrational ist, oder eine Vorahnung. Ich bitte, um ein Zeichen, wenn ich diesen Abschnitt aussetzen soll, wenn ich nicht weitergehen soll.“

Aber Horst, du wirst die Zeichen wegrationalisieren, weil du dich für unerschütterlich hältst, weil du einmal Begonnenes durchziehen möchtest und weil du gegenüber Vajrapani Anfang Januar 2011 gelobt hast, dich unverzüglich auf den Weg Richtung Bodh Gaya zu machen.

Ja, ich weiß, dass das ein Dilemma ist und bitte daher um deutliche Zeichen.“

Wie deutlich denn, Horst?

Deutlich genug, damit ich es erkenne, vielleicht mehrere Zeichen, klare, beeindruckende Zeichen.“

Welches Zeichen würde dich schon genügend beeindrucken, Horst?

Ich weiß es nicht, auf jeden Fall so klare, dass ich sie verstehe. Sollte ich allzu halsstarrig sein, dann müsste ich notfalls dadurch gestoppt werden, dass mein Fahrzeug, mein Hinayana, bereits vor dem Bosporus zerstört wird. Aber nur im aller äußersten Notfall!!!“

Schweigen. Ich bemerke keine Antwort mehr.

Es ist aber auch nicht so, dass ich die grün gedruckten Zeilen hören würde, es sind vielleicht meine eigenen Antworten. Aber was sind schon „eigene“ Antworten, wenn man davon überzeugt ist, dass es keine Trennung von Innen und Außen gibt?

Auf jeden Fall bin ich etwas beruhigt. Ich habe „meine“ „eigenen“ „inneren“ Kräfte gestärkt und mich um Rückhalt von „außen“ vom Transzendenten bemüht.

Am Freitagvormittag fuhr ich dann mit dem Hianyana los, auf Landstraßen wie üblich. Für den ersten Tag hatte ich mir nur eine kurze Strecke vorgenommen, bis Regensburg, wo ich mir ein Zimmer mit W-Lan reserviert hatte. Da am Samstag ganz viele Hessen zu Ferienbeginn losfahren, würde ich, der ich in Regensburg starte, einen deutlichen Vorsprung vor dem Pulk haben und hinter den Alpen sein, bis mich die Hessen einholen. Ich traf auch - wie erwartet - um 16.30 h im Hotel ein, rief noch eine Freundin an – inzwischen waren meine Ängste nicht mehr akut, denn die Fahrt hatte begonnen, ich hatte alles unter Kontrolle – dachte ich.

Ich versuchte mein Tablet und mein Handy über W-Lan anzumelden. Beim Tablet hat es geklappt, beim Handy nicht. Mitunter, so hat mich mein Schwiegersohn aufgeklärt, funktionieren die Geräte wieder, wenn man sie erst herunterfährt und dann wieder anschaltet. Also mache ich das mit dem Handy – nix. Ich versuche jemanden anzurufen – das Telefon weigert sich, es fordert mich auf die SIM-PIN einzugeben. Himmel was ist das? So etwas hatte ich noch nie! Wenn es eine solche Nummer gibt, dann ist die im Verpackungsmaterial – und das liegt zuhause. Also keinerlei Flat-Rate von der Türkei, Telefonieren geht nicht.

Dann fängt das Tablet an zu spinnen.

Ich versuche mehr als vier Stunden lang die abwechselnd auf Tablet und Handy auftretenden Probleme in den Griff zu bekommen. Ich werde immer verwirrter. Schließlich entscheide ich mich eine Spaziergang zu machen. Ich schalte die Here-App an. Sie wähnt mich in Gelnhausen! Das hat sie noch nie getan, mich an einem anderen Ort gewähnt. Zum Glück habe ich ja noch eine zweite Kartenapp auf dem Handy, ich bin ja pfiffig – dachte ich. Sie funktioniert nicht mehr (bislang immer einwandfrei!). Das Handy scheint kein GPS mehr zu empfangen. Ich gehe raus, irre durch Regensburg, die Luft tut mir gut. Irgendwie finde ich auch wieder zurück. Kurzer Blick, ob sich die Probleme behoben haben. Nein, das Handy kann jetzt auch kein W-Lan mehr empfangen, wohl aber das Tablet. Nein, ich werde mich jetzt nicht nochmal stundenlang dransetzen. Jetzt wird geschlafen. Ich wache aber dauernd auf. Angst. Angstschweiß. Unruhe.

Am Morgen der Griff zum Tablet, dort geht ja wenigstens das W-Lan. Dachte ich. Kein W-Lan. Mir wird ganz schwindlig. Hat sich denn jetzt alles gegen mich verschworen? Ich kann nicht mehr klar denken. Angst. Ich mache einige unsinnige Dinge am Tablet. Verzweiflung.

Und plötzlich ist eine Verbindung zum Netz da: Ich komme an meine E-Mails. Da ist eine E-Mail von Antonia, Überschrift: Putsch in der Türkei. Ich öffne die E-Mail:

Hallo Horst,

gerade kam ich von der Meditation bei MaO zurück, da empfing mich mein Mann mit den Horrornachrichten über den Putsch in der Türkei. Ich hoffe, du kehrst auf dem schnellsten Wege wieder um.

Antonia

Mein erster Gedanke: Wenn alles andere, was mit Kommunikationstechnologien schief lief, vielleicht kein Zeichen war, das scheint eins zu sein! Ich gehe auf tagesschau.de, lese den Stand der Dinge (es ist Samstagmorgen 5.30 h). Es sieht aus, als sei der Putsch niedergeschlagen. Und echte Probleme werden auch nur aus Ankara und Istanbul gemeldet. Ich komme erst übermorgen durch Istanbul, dann ist bestimmt wieder alles ruhig und dort, wo ich wandere, bekommt man davon nichts mit, vielleicht mehr Militär, noch mehr Gefangenentransporte als sonst, aber nichts, was Auswirkungen auf mein Vorhaben hat. Ich kann weiter gehen!

ASIn diesem Augenblick erscheint vor meinen Augen klar und deutlich Amoghasiddhi, der für Furchtlosigkeit zuständig ist, und das obwohl ich gar nicht in Meditation saß, sondern mit dem Tablet in der Hand auf dem Bett saß und Nachrichten las.

Amoghasiddhis Gesicht drückt sonst Zuversicht aus. Heute ist das anders. Er war noch nie so ernst und besorgt. Er hat wie üblich grüne Haut und die rechte Hand zur Abhaya-Mudra, der Geste der Furchtlosigkeit, erhoben. Doch diesmal lässt er sie sinken – das hat er noch nie gemacht, sie ist jetzt in der Höhe seiner Hüfte, die Handfläche ist geöffnet und darin steht ein kleines silbernes Auto – das Hinayana!

In diesem Moment schließt er die Hand und das Hinayana wird zerdrückt. Entsetzt sehe ich ihm in die Augen. Amoghasiddhi schaut mich mit ernstem und bedeutungsschweren Blick an. Kurz darauf ist er verschunden.

In meiner Hand das Tablet, Tränen darauf.

Ich ziehe mich an, packe meine Sachen, gehe zum Auto. Wie so oft spreche ich das Hinayana an: „Keine Angst, du wirst nicht zerquetscht! - Und ich werde meinen 65. Geburtstag erleben.“

Dann steige ich ins Hinayana, das Navi zeigt das Tagesziel an: Ivanic Grad, Kroatien. Ich lösche das Ziel und gebe ein: nach Hause.

So weit, so schade. Das ist inwischen einige Stunden her. Ich weiß nicht, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

Aber ich habe eine Entscheidung getroffen, und das ist gut so!

Übrigens: seit einer Stunde geht wundersamerweise das Internet auf dem Handy wieder. Anrufe funktionieren wieder. GPS geht wieder – in beiden Kartensystemen. Und selbst die Whatsapp Nachrichten der letzten Wochen wurden soeben zugestellt.

Es ist einer der Augenblicke, in der ich Goethe recht gebe: es geschehen mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als euch eure Schulweisheit lehrt.

Ende des Schreibens vom 16. Juli 2016

Das also war das Ende. Damals wusste ich das allerdings noch nicht. Inzwischen weiß ich von einem Freund und vom Auswärtigen Amt in Berlin, dass im Osten Irans und in Pakistan keine realistische Chance besteht, eine Strecke von rund 2500 km zu passieren, islamistische Terroristen überfallen dort alles, was sich auf den Straßen bewegt – und was bewegt sich schon langsamer als ein Pilger, der für diese 2500 km 100 Tage braucht?

Am 31. Dezember 2016 habe ich ein kleines Ritual für Vajrapani gemacht, und ihm erklärt, dass ich mich 2011 – wie versprochen – unverzüglich auf den Weg Richtung Bodh Gaya gemacht habe, dass – und warum - ich aber jetzt dieses Projekt aufgeben muss. Da ich mich aber weiter an mein Versprechen gebunden fühle, würde ich ab 2017 gewissermaßen als Ersatz ein neues Wanderprojekt starten. Ich würde zwischen den Triratna-Zentren, zwischen den Zentren der buddhistischen Bewegung, der ich angehöre, pilgern. Ich sei überzeugt, dort eben so viel Inspiration zu bekommen wie in Bodh Gaya. Mein erster Wanderabschnitt würde mich in diesem Frühjahr von Gelnhausen über Arnsberg nach Essen bringe. Die erste Etappe (Gelnhausen-Büdingen) würde ich gleich morgen in Angriff nehmen, am 1. Januar 2017.

Ich habe nichts vernommen, was ich als Widerspruch von Seiten Vajrapanis interpretieren könnte. Meine Freunde haben meinen Entschluss freudig begrüßt.


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