Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 18.1.2020

Szene 40 – Das Carstle – 1972-1984



Seit frühester Kindheit drängte es mich, wie wohl ein jedes Kind, Mobilitätszugewinne zu erreichen. Die unvernünftige Art der Menschen, sich durch Reisen die Welt untertan machen zu wollen, mit Flugzeugen in möglichst alle Kontinente, in möglichst alle Länder der Welt zu gelangen, ist ein typisches Beispiel dafür, diese Eroberungen ausdehen zu wollen. Und wenn es inzwischen Unternehmen gibt, die sich auf die Entwicklung von Weltraumtourismus spezialisiert haben, ist dies nur ein weiteres Beispiel, wie wir unsere eigene Maßlosigkeit auf Kosten der Natur durchzusetzen versuchen. Es ist der Versuch über alles hinauszugehen, sich selbst zu transzendieren, ohne jedoch eine Ahnung davon zu haben, was Transzendenz ist. Der Buddha sagt: „Das Ende der Welt findest du nirgendwo anders als in eben diesem klafterlangen Körper.“ Solange wir dies nicht verstanden haben, solange wir nicht wissen, dass Transzendenz die innere Umwandlung ist, die höchste Form von Transformation, das Erreichen einer neuen Evolutionsstufe, von Buddhaschaft, so lange suchen wir immer noch weiter draußen, verwechseln räumliche Mobilität mit Raum und Zeit transzendierender Mobilität.

Und ebenso ging es mir auch. Mit drei Jahren versuchte ich mit dem Dreirad nach Venezuela zu gelangen – was bereits an der ersten Kreuzung misslang. Mit vier Jahren versuchte ich das gleiche mit dem VW-Käfer meines Onkels, kam jedoch damit noch weniger weit. Mit sieben Jahren eroberte ich mit dem Fahrrad die umliegenden Orte, mit sechzehn stieg ich aufs Moped um und mit achtzehn aufs Himbomobil, meinen Käfer. Dann jedoch las ich in einer Zeitschrift von einer noch schöneren Dimension der Mobilität. Volkswagen hatte in Zusammenarbeit mit den Westfalia-Werken einen Campingbus auf den Markt gebracht. Also nicht mehr so ein Selbstbau-Fahrzeug, mit denen frühe Hippies auf die Straße gingen, sondern etwas, das auch handwerklicher Fähigkeiten nicht mächtige Personen bedienen können. Selbstverständlich war das jetzt mein Traum.

Das Übernachten im Käfer hatte sich rückentechnisch als äußerst wenig hilfreich herausgestellt. Meine Mutter unterstützte derartige Bestrebungen bei mir. Ob aus eigener Sehnsucht, sie war als Mädchen gern mit dem Fahrrad unterwegs, oder aus Angst um mich, der in dieser Zeit von suizidalen Gedanken (vgl. Szene 047) bewegt wurde, weiß ich nicht. Auf jeden Fall bekam ich von ihrer Seite keinen Widerstand.

Ich habe zwar später immer in meinen Erzählungen den Eindruck zu erwecken versucht, dass ich mir alle diese Dinge wie meine Campingbusse allein durch meinen Stiefo-Unterricht finanziert habe. Aber ein genaues Betrachten der Realität hat mich dahin gebracht, dass diese Schilderungen, die ich immer von mir gab, von einem Großteil selbstidealisierender Wunschgedanken durchdrungen waren. Um es ganz klar zu sagen: ohne die finanzielle Rückendeckung durch meine Mutter wären die Campingbusse des Jahres 1972 nicht möglich gewesen. Und wenn ich das Wort „Camingbus“ eben im Plural verwendet habe, so ist das richtig. Insgesamt dreimal kaufte ich – mit mütterlicher Unterstützung – im Jahr 1972 einen Campingbus.

Zunächst einmal muss gesagt werden, dass so ein neues Teil ja recht teuer ist, damals etwa 15.000 DM, also so viel wie ein Mercedes 200. Leider gab es noch keine alten Fahrzeuge. Also kam ich auf die Idee einen relativ neuen Gebrauchtwagen – einen leeren VW-Bulli - von einem Werksangehörigen zu kaufen und dann von Westfalia ausbauen zu lassen. Nun gab es damals noch kein Internet, nur Zeitungsanzeigen – und die waren meist nur regional. Also annoncierte ich in den Braunschweiger Nachrichten, dass ich einen VW-Bus als Jahreswagen kaufen wollte. Die Braunschweiger Nachrichten waren die damals meistgelesene Regionalzeitung im Raum Wolfsburg. Dort müssten statistisch die meisten Inhaber von VW-Jahreswagen sitzen. All das hatte ich recherchiert.

Zu meiner Überraschung bekam ich nun aber keinen leeren Bulli, sondern einen wirklichen Campingbus angeboten, nämlich das allererste Fahrzeug, den Prototyp, den Westfalia für VW gebaut hatte. Er war Baujahr 1968 und damals extra für die IAA und die folgenden Campingmessen gebaut worden, also das Ausstellungsfahrzeug, mit dem VW erste Kunden für das neue Marktsegment gewinnen wollte. Er war unter anderem mit einem teuren englischen Faltdach (mit Betten darin, Aufpreis 2400 DM) versehen. Die von mir bevorzugte Dachvariante (Hubdach) hätte nur 500 DM gekostet.

Nach den Messen hatte dann ein Werksangehöriger das Fahrzeug gekauft. Und dieser bot es nun, nach drei Jahren und 37.000 km wieder an. Es hatte sogar noch das Orinignal-Nummernschild, mit dem es auf Messen und in Fachzeitschriften abgebildet war: WOB (für Wolfsburg) – VW 68. 1968 war das Baujahr.

Mir war es zwar nicht ganz recht, dass das Fahrzeug schon gebraucht war. Ich, der keine Ahnung von Technik hat, fürchtete, ich könnte mir einen verdeckten Mangel eingefangen haben. Tatsächlich habe ich nie wirklich herausgefunden, wie sich das Faltdach sicher arretieren lässt. Aber ich hatte das Fahrzeug auch nur etwa zwei Wochen. Da ich gleichzeitig auch noch in der lokalen Presse annonciert hatte, bekam ich aus Hanau auch noch einen billigen Wagen angeboten, für 2000 DM. Das war ein selbst umgebauter Ford Transit (ein altes Modell, Baujahr 1963 mit einem Mittelmotor zwischen Fahrer- und Beifahrersitz). Auch dieses Fahrzeug besaß ich kein Monat lang und verbinde es nur noch mit der Erinnerung an ein ziemlich missglücktes Liebesabenteuer. Also vergessen wir diese beiden Fahrzeuge ganz schnell wieder.

Den alten Ford habe ich über die Frankfurter Rundschau angeboten und mit 500 DM Mehrpreis (immerhin 25 %) weiter verkauft. Der VW-Bus ging mit einem Gewinn von 2000 DM wieder weg. So waren 2500 DM erlöst, was genau dem Preis der Westfalia-Einrichtung entsprach, die ich dafür erwerben wollte. Nun besorgte ich mir erneut einen Jahreswagen in Wolfsburg, diesmal einen nichteingerichteten, leeren VW-Bus, der mit 9000 km 2500 DM unter Neupreis angeboten wurde, für 7200 DM. Und so konnte ich diesen von Westfalia einrichten lassen und hatte dann für kanpp 10.000 DM einen Westfalia-Bus. Ich war überglücklich.

Es war das Sommersemester 1972 und mein neuer Campingbus diente mir als Wohnung in Frankfurt, er stand direkt vor dem Uni-Hauptgebäude. Sonntagabends stellte ich ihn dort ab und wohnte dann bis Donnerstag dort. Und in den Sommersemesterferien ging es nach Großbrittanien, das Land entdecken. Ich fuhr insgesamt 8000 km, kam durch ganz England, Wales und Schottland (vgl. Szene 014 – Was wollte mir der Engel sagen?). An der Tür des Fahrzeuges prangte jetzt ein Aufkleber: „NOmade in Germany“, ich zog als Nomade aus Deutschland durch die Gegend. Aus dem Vagabund, der ich als Kind gern sein wollte, war ein moderner Nomade geworden. Sagt ein englisches Sprichwort: „My home ist my castle“, so galt für mich „My home is my car“, und so bekam mein Campingbus seinen Namen: CARstle.

Das Carstle war bei meinen Entdeckungsreisen ebenso dabei wie bei meinem Studium und im Alltag, es war Platz von sexuellen Begegnungen, von Reisen und von Wochenendtrips. Im Sommer 1973 war es beim ersten gemeinsamen Urlaub mit Eleonore in Skandinavien dabei und bei den Untersuchungen für meine Diplomarbeit. Es wurde für Vereinsausflüge genutzt und für Touren mit meiner Schwester. Ostern 1976 wurde es sogar für einen Urlaub zu viert genutzt. Eleonore und ich übernachteten im Carstle, meine Mutter war als Babysitterin mitgefahren und schlief mit Kohlrübchen, dem Baby, im Hotel. Es war ein schöner Urlaub an der italienischen und französischen Riviera. Das Carstle war bei unserer Hochzeitsreise dabei und es war unser Kinderwagen mit Spiel- und Schlafecke für unsere beiden Töchter. Und auch als 1983 mein Sohn zur Welt kam, durfte er dieses zunächst noch nutzen. Allmählich wurde es jedoch im Carstle zu eng.

Das Bett im Carstle war nur 120 cm breit, üppiger Platz, wenn man allein unterwegs ist und angenehm, wenn man verliebt ist. Viele Reisen unternahm ich Ende der 70er, Anfang der 80er mit Kohlrübchen, meiner älteren Tochter. Eleonore fuhr nun nur noch im Sommer mit in Urlaub, im Frühjahr und im Herbst aber waren Kohlrübchen und ich unterwegs. Für einen Erwachsenen und ein Kind war der VW-Bus vom Typ 2 voll ausreichend. So kamen wir in den kleinen Ferien nach Frankreich, Österreich, Italien, der Schweiz und nach Tschechien (damals noch die CSSR).

Alle Bilder vom Carstle in dieser Szene wurden in Spanien aufgenommen.

1982 war ich mit Kohlrübchen in München. Wir waren am Tag im Olympiapark gewesen, hatten die Eintrittskarten vom Olympiaturm und von der Olympiabahn aufgehoben. denn Kohlrübchen wollte solche Dinge sammeln, um zuhause von unserem Urlaub zu erzählen. Das war der Anlass, das Fahrtenbuch einzuführen. Ich kaufte Kohlrübchen im Schreibwarenladen ein dickes Heft, eine Kladde, und Klebstoff. Anschließend saßen wir in einem Lokal, es war der Löwenbräukeller, und begannen das Fahrtenbuch zu führen. Ich schrieb das Datum und den Wochentag auf und Rübchen durfte die Belege des Tages darunter heften: Eintrittskarten, Bierdeckel, Rechnungen vom Tanken und vom Essen, eben alle kleine Trophäen des Tages. Jeden Abend wurde das Fahrtenbuch ergänzt und Rübchen nahm dies immer zum Anlass, mir anhand der Belege unsere Reise nachzuerzählen. Und als wir später zuhause waren, bekamen diese Erzählung noch viele Leute zu hören: ihre Mutter, die Oma, Tanten, Lehrer und, und, und... Aber zunächst waren wir noch unterwegs und sammelten eifrig Belege in Bayern, in Österreich, in Italien und auf der Rückfahrt in der Schweiz.

Auch für den Fall, das wir uns irgendwo verlieren sollten, gab es einen genauen Plan. Wenn Rübchen entdecken sollte, dass sie mich verloren hat, sollte sie in Ruhe überlegen, wo sie mich zuletzt gesehen habe, und genau an diese Stelle zurück gehen und sich dort nicht von Platz rühren. Ich würde einfach die Strecke zurückgehen, die ich zuvor gegangen sei, und so zwangsläufig auf sie stoßen. Das hatten wir bereits mehrfach so abgesprochen und an diesem Tag in München wollte ich es testen – unter realistischen Bedingungen, also ohne dass die kleine Rübe etwas davon wusste.

Sie stand gerade vor einem Schaufenster mit Spielzeug und war ganz fasziniert. Ich entdeckte auf der anderen Straßenseite eine Wirtschaft und begab mich heimlich dort hinein. Ich saß am Fenster und beobachtete das Rübchen. Irgendwann drehte sie sich um und wollte mir etwas sagen – doch ihr Vater war nicht da. Aufgeregt schaute sie sich um, lief ein paar Schritte nach rechts und ein paar nach links, offensichtlich höchst irritiert. Dann blieb sie stehen. Ich konnte sie nachdenken sehen. Anschließend ging sie genau zu dieser Stelle am Schaufenster zurück, wo ich sie verlassen hatte. Sie stapfte fest mit dem rechten Fuß auf die Stelle: „Hier war es, wo ich Daddy zuletzt sah!“ Und mit diesem Fuß blieb sie wie angewurzelt stehen. Während sie den linken Fuß nutzte, um sich immer wieder im Kreis zu drehen und in alle Richtungen Ausschau zu halten. Ich bestellte mir ein Bier und verfolgte das Schauspiel. Nach gut einer halben Stunde ging ich zu ihr. Ihre Freude war groß und sie versicherte mir, es genau wie besprochen gemacht zu haben. Ich lobte sie über alle Maßen und gestand ihr, dass das ein Test sei. Offensichtlich sei sie verständig und „groß“ genug, dass man sie auch mit ins Ausland nehmen könnte, wo andere Sprachen gesprochen werden. Es bestünde wohl keine Gefahr, wenn sie immer so umsichtig handele.

Und ich versprach ihr zur Belohnung – und auf den Schreck hin – das schönste Abendessen, das sie in München finden könnte, die 7-DM-Regel sei aufgehoben. Die 5-DM-Regel besagte, dass die beiden Mädchen sich jeder ein Essen bis 7 DM aussuchen können – oder sich ein Essen bis 14 DM teilen dürfen. Kohlrübchen wollte wieder ins Löwenbräu, dort hatte sie gesehen wie jemand ein halbes Hähnchen mit Pommes und Salat bekam. So eines wollte sie auch. Kein Problem, die vegetarische Zeit begann erst im folgenden Jahr, noch ernährten wir uns konventionell.

Es gab auch nie Probleme hinsichtlich der Orientierung bei Kohlrübchen. Neben dieser Regel, am letzten Standort zu verharren, gab es noch eine zweite und dritte Hilfslinie. Sollte es aus irgend einem Grund auch nach „vielen Stunden“ kein Kontakt gegeben haben, so solle sie sich an einen Polizisten wenden und ihm ihren Unterarm zeigen. Dort schrieb ich jeden Morgen mit Kuli den Straßennamen auf, wo das Carstle stand. Die Polizei würde ihr dorthin helfen. Außerdem war als Plan C auch noch Elis Telefonnumer in Deutschland angegeben.


Ostern 1983, mein Sohn - der Zorilla - war gerade geboren worden und blieb mit Eli und Steffi zuhause, fuhren Kohlrübchen und ich mit dem Carstle zu Beginn der Osterferien nach München. Dort war das Wetter leider ziemlich schlecht. Also gingen wir zu einer Telefonzelle und riefen die Wettervorhersage an, denn das war in der Zeit bevor es Handys und Internet gab. Es war nicht nur in München schlechtes Wetter, sondern ziemlich überall rundum, lediglich südlich des Alpenhauptkamms sollte es Sonne haben. Also entschieden wir beide uns nach südlich des Alpenhauptkamms zu fahren, wir wussten noch nicht, das dies unsere abenteuerlichste gemeinsame Reise würde.

So kamen wir am nächsten Tag nach Rosenthal in Kärnten. In der Tat war das Wetter dort wesentlich besser. Allerdings war es hier doch deutlich teurer als wir das vom nahen Slowenien her kannten. Also entschlossen wir uns – wir besprachen immer alles gemeinsam: ich legte ihr die Vor- und Nachteile der akzeptablen Alternativen dar und Rübchen durfte entscheiden. Und so landeten wir am nächsten Tag bei unserem Lieblingscampingplatz „Camping Smlednik“ in Dragocaina nahe Kranj, der war zwar äußerst armselig ausgestattet, auch die Sanitäranlagen waren sehr osteuropäisch, aber es war dort billig, es lag direkt am Ufer der Sava und es gab eine wunderschöne und äußerst günstige Gaststätte, die „Pension Veronika“ mit einem ausgezeichneten Speisenangebot. (Hier fielen alle Speisen nur unterhalb der 7-DM-Grenze an, z. B. das wunderschöne Beefsteak Tartar mit viel Zwiebeln, Pfeffer und einem Eigelb!)

Natürlich wurde nicht wirklich in DM gezahlt, man nahm dort Dinar, die jugoslawische Währung, die Opfer einer hohen Inflation geworden war. Tags zuvor löste ich an der Grenze einen Euroscheck ein, die Höchstsumme (200 DM) betrug dort damals 100.000 Dinar, es gab allerdings keine Banknoten, die größer waren als 1000 Dinar. Der Bankbeamte sah sich den Scheck an, griff in eine Kiste und holte ein abgepacktes Bündel von 100 Banknoten zu je 1000 Dinar heraus. Er grinste: „Willste nachzählen?“ Rübchen, die eine große Affinität zu Geld hatte, war geschockt. Andererseits war das hier etwas für ihre Schatzkiste. Rübchen schleppte damals immer eine Schatzkiste mit Währungen der unterschiedlichsten Ländern mit sich herum – und hier konnte sie viele bunte Scheine bekommen, 10er, 20er, 50er – das sah schon groß genug aus – aber auch 100er, 200er und sogar einen 1000er. So einen großen Schein hatte sie bisher nur aus Italien. Rübchen unterlag einer Faszination, einem Phänomen, das die Wirtschaftswissenschaft unter dem Begriff „Geldillussion“ kennt.

Am nächsten Tag brachte uns das Carstle zu den Postjinska Jama, den schönsten Tropfsteinhöhlen Europas. Der Eintritt betrug 20 DM – das stand dort sogar wirklich in DM an, auch die Eintrittskarten wiesen den Preis in DM aus. Am Schalter war ein Aushang für die jugoslawische Tagespreise. Kurz bevor der Schalter geöffnet wurde schaute der Beamte in die Zeitung, um die Wechselkurse zu betrachten und erhöhte dementsprechend den Preis – auf heute 12730 DN.

Rübchen und ich hatten inzwischen beschlossen, wenn wir schon einmal hier sind, könnten wir auch noch ans Mittelmeer fahren, ist ja nicht so weit. Das östliche Mittelmeer, die Adria, kannte sie schon letzten Urlaub in Herbst, wo wir u.a. in Venedig waren. Diesmal kamen wir nach Rijeka. Und da wir schon mal da waren, fuhren wir gemütlich die Adria entlang.

Besonders nett war eine Übernachtung in Šibenik. Die meisten Jugoslawen waren damals mit Bussen unterwegs. Die Busse fahren eine bestimmte Strecke vielleicht ein- oder zweimal am Tag. Die Haltestelle ist sinnvollerweise immer an der Gostilna (Gaststätte), der Bus hupt auf der kurvenreichen Adriastraße ständig, sodass man ihn schon zehn Minuten vor der Ankunft hört. Die Fahrgäste sitzen in der Gostilna, und wenn sie das Hupen des Busses hören, bezahlen sie, gehen noch rasch zu Toilette und dann heraus zum Bus. Auf diese Weise sind auch zwei oder mehr Stunden Verspätung locker zu ertragen.

Und genau gegenüber einer solchen Gostilna mit Haltestelle hielten wir, an der Fernbusstation Šibenik. Wir begaben uns in die Gostilna, aßen dort, tranken etwas, verbrachten den Abend und nutzten die Toiletten, denn den Luxus einer Toilette bot das Carstle leider nicht. Am nächsten Morgen gingen wir wieder zum Frühstück in die Gostilna. Die Wirtin, die schon entdeckt hatte, dass wir im Carstle wohnen, schmunzelte und sagte uns: „Ich hab euch schon mal frische Handtücher in die Toilette gehängt!“ Wow, das war ein Super-Service!

Wir nutzten die Fahrten unter anderem um Karten zu spielen: Mau-Mau oder Schnauz, das Carstle kannte die Strecke ja allein. Auf diese Art kamen wir irgendwie nach Dubrovnik. Hier war es toll, die ganze Gegend klang ungeheuer südlich, die Zikaden lärmten, und es war mildes Wetter. Und da noch ziemlich viel von den Osterferien übrig war, machte ich mir so meine Gedanken. Am nächsten Tag war der erste April. Wenn wir jetzt weiter wollten, mussten wir von der kurzweiligen Adriastraße weg ins langweilige Gebirge. Würde Rübchen diese lange Tour klaglos überstehen? Mir kam da ein Gedanke. Schließlich war ja der erste April! Und so sagte ich ihr, hier in der Nähe sei das Kosovo, dort lebten die Bi-Zyklopen. - „Wie, du weißt nicht was Bi-Zyklopen sind? Nun die haben nur ein Auge mitten in der Stirn. Allerdings in jedem Kopf. Bi-Zyklopen haben bekanntlich zwei Köpfe.“ Kohlrübchen war begeistert – dort wollte sie hin, selbst wenn die Strecke noch so weit sei.

Am nächsten Tag ging es also los. Mein Ziel war es, Albanien zu umfahren und irgendwann über Mazedonien vielleicht nach Griechenland zu kommen. Der griechische Norden, Thessaloniki, müsste schön warm sein und durchaus erreichbar. Man muss bei den Entfernungen berücksichtigen, dass wir keine Autobahnen fuhren, meist auch keine durchgehenden Landstraßen, sondern kleine enge Straßen über viele Pässe.

Und so fuhr das Carstle dahin und Rübchen hielt von Mittag an Ausschau nach den Bi-Zyklopen. Ich versuchte die Straße nahe der albanischen Grenze nach Пећ (Peć) zu nehmen. Es war ein extrem merkwürdiger Tag, ein unheimlicher, und wir sahen keinerlei andere Fahrzeuge. Plötzlich lag ein totes Pferd mitten auf der Straße. Wir stiegen aus. Das Pferd war erschossen worden. Wir fuhren weiter, zunächst war die Straße passierbar, an der Seite geräumter Schnee vom Winter, mindestens einen Meter hoch. Doch plötzlich – Ende des Räumens – hoher Schnee, kein Durchkommen. Das war vor allem problematisch, weil ich ausgerechnet hatte, dass das Benzin bis Пећ reicht. Aber jetzt? Ich sah auf die Karte. Wenn man ein Stück zurückfuhr und dann nach Osten, konnte man in gut 100 km den Ort Rožaje erreichen. Bis dahin müsste das Benzin auf jeden Fall noch reichen, wenn ich immer im wirtschaftlichen Bereich fahren würde.

Also nach Rožaje. Schon von weitem war eine Rauchsäule zu erkennen. Wir kamen näher. Oh, nein: das, was da ausgebrannt war, wovon nur noch rauchende Trümmer standen, war die Tankstelle. Längst war nicht mehr die Entdeckung der Bi-Zyklopen unser Hauptthema. Ich sah erneut auf der Karte nach. Nein, kein anderer Ort war in erreichbarer Entfernung. Allerdings gab es am anderen Ende des Ortes eine Straßeneinmündung, an solchen Stellen sind mitunter Tankstellen. Ich fuhr dorthin. Tatsächlich: eine Tankstelle. Panzer vor der Tankstelle, Scharfschützen hinter Sandsäcken auf dem Dach der Tankstelle. Ich fuhr hinein, erkundigte mich bei den Soldaten. Nein, die Tankstelle sei für heute geschlossen. Doch, morgen würde sie wieder im Schutz der Volksarmee öffnen. Also eine Nacht in Rožaje.

Wir suchten einen Platz zum Übernachten. Dort war eine Gostilna. Wir parkten. Die Leute sahen uns feindselig an. Wir gingen in die Gostilna. Rübchen bestellte sich Pommes und eine Limo, ich mir ein Bier. Rübe ging zur Toilette und kam bleich zurück: Papa, guck mal. Ich ging hin. In der Tat, das war unbenutzbar. Eine gelbe stinkende Flüssigkeit stand in dem ganzen Raum, vielleicht zwei, drei Zentimeter hoch. Ich ging zum Tisch zurück. Einige Typen standen um unsere Plätze, sie hielten Billardstöcke in den Händen, Rübchen saß furchtsam und eingeschüchtert da. Der Wirt „servierte“ die Pommes: er leerte den Teller vor Rübe auf den Tisch. Dann schüttete er die Limo darüber und fragte mit höhnischem Grinsen: „Ketsch-up?“ Die Kerle, die darum standen, lachten, und begannen die Queues im Takt in ihre Hand zu schlagen. Ich warf einen Geldschein auf den Tisch und rannte mit dem entsetzten Rübchen nach draußen. Als wir das Carstle erreichten, flogen erste Steine in unsere Richtung.

Ich fuhr los. Wohin? Den Ort verlassen ging nicht, wir brauchten Benzin. Das gab es nur hier und leider erst morgen wieder. Rübchen starrte mich entsetzt an. Ich stellte sie vor die Alternative: „Wir haben zwei Möglichkeiten, entweder wir fahren bergauf so lange das Benzin reicht, übernachten dort und rollen morgen ohne Benzin das Gebirge herunter bis zur Tankstelle. Wenn die Kerle von hier uns aber heute Nacht dort überfallen, sind wir schutzlos, wir können nicht einmal mehr fliehen, haben kein Benzin. Oder wir fahren zum Ortsende, dort ist ein Militärlager. Die Soldaten sind stärker als der Pöbel. Die können uns schützen.“ Die Rübe überlegte nur kurz, sie war pazifistisch erzogen worden, ihre Antwort war klar: „Nicht zu den Soldaten!“

Ehrlich gesagt, mir wäre die andere Lösung lieber gewesen. Aber unsere Vereinbarung war klar: Ich lege die vertretbaren Alternativen dar und Rübchen entscheidet. Also fuhren wir langsam ins Gebirge hoch. Nach etwa 15 km, wir hatten noch Treibstoff, fand ich eine Stelle, die zum Übernachten geeignet war - wenn hier nur nicht auch solche Blödmänner auftauchten. Wir waren offensichtlich in den kosovarisch-serbischen Konflikt geraten, der damals bei uns in Deutschland überhaupt noch nicht bekannt war. Vermutlich konnten die hinterwäldnerischen Kosovaren dort nicht zwischen „serbischen Besatzern“ und „anderen Ausländern“ unterscheiden.

Am nächsten Tag – ich ließ es mir nicht nehmen beim Frühstück mit Rübchen den zehnten Geburtstag des Vereins für Stiefografie (vg. Szene 013) zu feiern, was für die kleine Rübe ein guter Kontrapunkt zu den Ereignissen vom Vorabend war - gelangten wir wieder zum Ort des Schreckens, Rožaje. Die Tankstelle war geöffnet. Wir waren die einzigen Kunden. Der Tankwart bediente uns. Was blieb ihm auch übrig? Ein Soldat mit einem Schnellfeuergewehr im Anschlag stand neben ihm und überwachte die Szene. Als wir Benzin gefasst hatten, ging es nichts wie weg.

Inzwischen erklärte ich der Rübe, was es heißt „jemanden in den April zu schicken“, und dass wir die Bi-Zyklopen nie finden würden, statt dessen hatten wir den Kosovo-Konflikt entdeckt. Mittags erreichten wir Skopje, wo ich einige Weihnachtsmänner erstand. Eigentlich wollte ich Rübchen am bevorstehenden Osterfest Eier und Hasen verstecken, aber die gab es hier nicht. Aber Weihnachtsmänner täten´s natürlich auch. Am Abend waren wir auf einem herrlichen Campingplatz auf der Χαλκιδική (Chalkidike) nahe Θεσσαλονίκη (Saloniki) und erholten uns von unserem Abenteuer.

Eine Anekdote dieser Reise möchte ich abschließend noch schildern, sie spielt weit im Landesinneren Griechenlands. Ich wollte einmal mehr eine meiner geliebten Abkürzungen über möglichst kleine Straßen machen. Leider ergab es sich, dass wir in einem kleinen, abgelegenen Ort absolut nicht mehr wussten, wo es weiter ging. Es war wirklich eine abgelegene Gegend, also eine, wo nicht unbedingt jeden Tag ein Auto vorbei kommt. Ich fragte einen Mann nach dem Weg, er gab mir Auskunft, ich bedankte mich und fuhr weiter. Und jetzt kommt ein ganz wichtiger Tipp für dich: frage, wenn du mit dem Auto unterwegs bist, nie, nie, NIEMALS einen Eseltreiber nach dem Weg. Denn dieser Mann, bei dem ich mich erkundigt hatte, war tatsächlich mit zwei Eseln unterwegs und er beschrieb mir den aus seiner Sicht (und der seiner vierbeinigen Begleiter) gangbaren Weg.

Nach einiger Zeit – Asfalt oder Pflaster gab es natürlich nicht, es handelte sich um eine sog „Naturstraße“, manchmal auch als „nicht staubfreie Straße“ bezeichnet – lagen Steine auf der Straße, ziemlich große Steine, mehr als einen halben Meter im Durchmesser. Ein Esel passt da bequem dran vorbei, aber mit dem Carstle musst du schon mit zwei Rädern an der Seitenwand des Hohlweges hoch, um daran vorbei zu kommen – und dabei aufpassen, dass das Carstle nicht umkippt. Dann kam eine Gabelung. Wohin jetzt? Ich stieg aus. Es gab Reifenspuren eines Fahrzeuges nach links. Also: ein Fahrzeug musste hier in den letzten 8 Tagen (so lange hatte es nicht geregnet und seitdem nur eine Fahrzeugspur) vorbeigekommen sein. Ich fuhr also nach links, dort ist immerhin schon mal einer gefahren! Nach 2 km sahen wir das Fahrzeug vor einem Gehöft stehen. Aha, ein Land Rover! Ich wollte aussteigen und mich nach dem Weg erkundigen. Da kamen zwei riesige zähnefletschende Hunde laut bellend angerannt, ich sprang ins Carstle, das Weite suchen – zunächst noch von den Kötern verfolgt. Dann kommt so etwas wie eine riesige Sanddüne, ein Berg aus Sand, eine Fahrspur an der Seite – nur nicht bremsen, nicht steckenbleiben, hoffentlich gerät das alles nicht ins Rutschen!

Auch das war überstanden, inzwischen befanden wir uns auf einer riesigen Wiese, denn Wege gab es nicht mehr. Ich fuhr weiter. Da hinten ein Dorf! Ich hielt darauf zu. Doch kurz vor dem Dorf: ein Bach mit Steilufer. Im Ort sind Leute an einer Baustelle. Sie lachen laut, als sie sehen, von wo ein Auto kommt, das hat es hier noch nicht gegeben. Aber sie sind äußerst hilfsbereit, legen zwei Bohlen über den Bach – ja das müsste klappen. Und dann überquert das Carstle auf den Bohlen den Bach. Wir atmeten beide auf und schworen uns, niemals mehr einen Eselstreiber nach dem Weg zu fragen.

Im weiteren Verlauf kamen wir auch noch nach Athen und auf den Peleponnes, bevor wir uns wieder in die Heimat aufmachten. Nach etwa der halben Strecke, in Ниш (Niš) nahe der serbisch-bulgarischen Grenze kamen wir erstmals wieder an ein benutzbares Telefon. Eleonore war überrascht und höchst erfreut, von uns zu hören. Erstaunt war sie, als sie hörte, dass wir in Niš seien: „Was da unten?“ - „Wieso,“ sagte Rübchen, „Wir sind doch schon fast wieder zurück!“

Solcherart waren unsere Urlaube mit dem Carstle.

Nach dem Tod meiner Mutter musste die Großmutter mit in den Urlaub, also kauften wir uns einen Wohnwagen, das Carstle aber blieb uns erhalten. Nach dem Tod der Großmutter wurde das Thema wieder aktuell: ein richtiges Wohnmobil sollte her. Und so trennten wir uns vom 1984 nach 150.000 km vom Carstle.

Aber die Sache mit dem Wohnwagen und mit dem Wohnmobil sind andere Geschichten.

c

imBild oben: Das Carstle – darüber (im Bild nicht sichtbar) – das übliche Geschwader von Schutzengeln.


Bild unten: der Mensch und das halbe Rübchen (die Aufnahme entstand zwei Jahre später)



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