Horst, der Mensch: Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum wohl aller Wesen – Geschichte eines europäischen Buddhisten - Stand 2.1.2020

Szene 15 – Wohnen im Alt-Auheim



Das Alt-Auheim war eine Gaststätte, ein „Speiselokal“, wie auf dem Schild außen an dem Gasthof anstand. Aber es war eben kein Restaurant, wohin man nur zum Essen geht. Es war ein Wirtshaus der guten alten Art. Es machte am späten Vormittag auf und es schloss zur Polizeistunde, also um 1 Uhr – außer manchmal, an Fasching beispielsweise.

Der Wirt hieß Helmut und hatte an gleicher Stelle früher einen Edeka-Laden gehabt, ungefähr 300 m von unserem Haus. Natürlich gingen wir früher dort nicht zum Einkaufen, es gab ja viel nähere Läden. In der Tat war die Konkurrenz recht groß. In den 70er Jahren rentierte sich der Laden nicht mehr, und Helmut sattelte um auf Gastwirt. Der ehemalige Edeka-Laden wurde umgebaut und erhielt den Namen Alt-Auheim. Gaststätten mit „Alt-“ und dem Ortsnamen waren damals gerade Mode. Und relativ dunkle Gaststätten waren auch gerade Mode. Mir gefiel beides.

In der Küche stand Helmuts Frau und kochte. Es gab leckere Speisen, „Filet-Steak California“ beispielsweise oder Hasenfuß, der hieß zwar „Hasenkeule“, ich bestellte aber immer „Hasenfuß“. Es war die Art traditionelles Lokal, wie man es heute eigentlich nicht mehr findet. Ein Gasthof, in dem die Inhaber nicht nur ihren Job machten, sondern wo ihre Tätigkeit so etwas war wie ihre Berufung, ihr Leben.

Helmut und seine Frau hatten kein Wohnzimmer und keine eigene Küche, oder falls sie doch eine hatten, benutzten sie dieselbe nicht. Sie lebten im Gasthof. Man ging morgens in die Wirtsstube, machte sauber und dann kamen die ersten Gäste. Hatte Helmut vormittags etwas zu erledigen, dann war seine Frau hinterm Tresen. Abends, wenn mehr Kundschaft da war, wurde noch eine Bedienung dazu gerufen. Und wenn die Kneipe schloß, ging Helmut zu Bett. Wohnen und arbeiten war noch eins, so wie heute nur noch in sog. unterentwickelten Ländern, so wie es aber früher überall war. Wer Wirt war, war Wirt und hatte keinen 8-Stunden-Tag, sondern arbeitete, wenn Arbeit eben anfiel – und wenn die Kunden am Tresen waren, wurde eben ein Schwätzchen mit ihnen gehalten. Genau so wie auch der Krämer, der Schuster, der Sattler ihre Arbeit taten, wenn Arbeit anfiel, und sie frei hatten, wenn nichts zu arbeiten war, so wie das früher eben war. Das Alt-Auheim war noch etwas Traditionlles, etwas zum Wohlfühlen.

1975 hatte ich geheiratet, in den Jahren 1975 und 1976 waren meine Töchter zur Welt gekommen und 1978 war meine Mutter gestorben, die mit uns im Haus gewohnt hatte und die eigentlich als Babysitterin vorgesehen war. Die zweite Hälfte der 70er Jahre – wenn man so will seit Gründung des Alt-Auheim - waren eine sehr ungünstige Zeit für mich. Ich hatte Anfang 1975 geheiratet, aber sofort nach der Eheschließung stellte sich dies für mich als ein falscher Schritt heraus. War Eleonore vor unserer Hochzeit gewöhnlich lieb und freundlich zu mir, so empfand ich das danach als völlig anders.

Schon am Tag unserer Hochzeit hatte sie sich bereits an mehrere Absprachen nicht gehalten. Es war für mich fast so, als sei ich umgarnt worden und mit der Hochzeit im Spinnennetz gefangen. So jedenfalls fühlte es sich für mich an. Gleichzeitig ging meine Zukunftsperspektive der frühen 70er Jahre zu Ende. Hatte sich mein Engagement für die Stiefografie, die Rationelle Stenografie, anfangs sehr gut angelassen, so ging inzwischen alles Mögliche schief. Die Auskünfte von Helmut Stief über die aktuelle Verbreitung der Stiefografie, waren bestenfalls Wunschdenken, Verblendung. Damit war auch dem von mir gegründeten kleinen Verlag, der Gunkel Co. KG, der Boden entzogen (vgl. Szene 13). Dazu kamen noch berufliche Enttäuschungen. Das Studium Jahre zuvor ging easy, locker. Doch das Refrendariat gestaltete sich als schwierig. Meine Ansprüche an die Institution Schule waren völlig andere als diejenigen sowohl der SchülerInnen als auch der KollegInnen.

War mein Schulbild von einem – man kann sagen bürgerlichen – Bildungsideal bestimmt, so erschien mir das emanzipatorische Bildungsideal, wie es dem Zeitgeist entsprach, in der Realität leider vorwiegend von Schlendrian und Leistungsunwillen geprägt. War ich von meinen Stiefokursen einen meinen Vorstellungen angepassten kooperativen Unterrichtsstil gewohnt, so wurden mir im Refrendariat Vorstellungen übergestülpt, die unpassend waren oder von mir so empfunden wurden. Der Leiter des Studienseminars, also unserer Refrendariatsausbildung, der meinen Unterricht ganz zu Anfang besuchte und dann wieder bei meiner Abschlussprüfung, sagte zu mir, ich sei einer der ganz seltenen Fälle, wo die Refrendarsausbildung kontraproduktiv gewirkt habe. Ich weiß nicht, ob die Aussage „einige der ganz seltenen Fälle“ stimmt, aber ich weiß definitiv, dass sie bei mir kontraproduktiv wirkte.

Und auch das Klima in meiner neuen Schule, den Beruflichen Schulen in Gelnhausen, war damals, in den späten 70er Jahren entsetzlich. Der Schulleiter schien die Schüler als Gegner aufzufassen, die bezwungen werden müssten.

Es herrschte bei einem großen Teil der Lehrerschaft incl. eines Teils der Schulleitung ein Geist, der einem demokratischen Rechtsstaat nicht anstand. Ich hatte dort im sog. „deutschen Herbst“ begonnen, also zur Hoch-Zeit des RAF-Terrors und des Zurück-schlagens eines noch weitgehend repressiven Staates. In den ersten Wochen meiner Arbeitszeit in Gelnhausen, war von der RAF ein Flugzeug entführt worden, um die RAF-Gefangenen freizupressen. Mein damaliger Abteilungsleiter hatte folgende Lösung parat: „Auf gar keinen Fall auf die RAF-Forderungen eingehen, gar nicht erst verhandeln. Die Bundesregierung muss vielmehr der RAF ein Ultimatum stellen: Wenn nicht bis Mitternacht alle Geiseln freigelassen sind, wird stündlich ein im Gefängnis Stammheim einsitzender RAF-Gefangener erschossen. Ob die schon verurteilt sind oder noch in Untersuchungshaft sind, von solchen juristischen Mäztzchen darf man sich dabei gar nicht stören lassen.“

Der Schulleiter schlug eine andere Lösung vor: „Die Kerle wollen die RAF-Gefangenen frei bekommen? Können sie haben! Die sollen alle in ein Flugzeug gesteckt werden und nach Entebbe ausgeflogen werden, wo die Geiselnehmer sitzen. Allerdings mit so wenig Treibstoff, dass das Flugzeug über dem Mittelmeer abstürzt!“ Auf den Einwand eines Kollegen, für solche ein Himmelfahrtskommando fände sich bestimmt keine Flugzeug-besatzung, erwiderte der Chef: „Die dürfen das natürlich nicht wissen. Die Anzeige-instrumente im Cockpit müssen selbstverständlich manipuliert sein. Klar, dabei kommt auch die Besatzung ums Leben, aber Kollateralschäden gibt’s im Krieg immer. Haupt-sache das Ziel ist erreicht: Vernichtung der gegnerischen Kräfte.“

Ich fühlte mich in einer solchen Schule nicht wirklich wohl. Man muss allerdings auch sagen, dass dies keine generelle Meinung war, es gab auch bei den älteren Kollegen herzensgute Menschen. Und in den späten 70er und den 80er Jahren änderte sich das Kollegium relativ schnell und die Kollegen mit derartig – sagen wir es ruhig: faschistischer – Einstellung verschwanden allmählich. Während der gesamten 40 Jahre, die ich an der Schule verbrachte, wurde das Schulklima auf allen Ebenen sehr viel besser – zum Zeitpunkt meiner Pensionierung 2017 war es meinem Dafürhalten nach unglaublich gut.

Aber diese Szene spielt in den späten 70er Jahren. Damals jedenfalls war meine berufliche, meine familiäre Situation und auch die Entwicklung im Bereich Stiefografie miserabel. Und nun war auch noch meine Mutter völlig überraschend mit 56 Jahren gestorben. Ich war verzweifelt. Aber es gab das Alt-Auheim: Bier, Wein, Weltflucht. In dieser Zeit bin ich tatsächlich in den Alkohol geflohen. Alkohol war schon vorher ein immer einmal wieder auftretendes Problem, aber jetzt wurde es zum bestimmenden, zum alles überschattenden Problem, auch wenn mir in meiner Verblendung Bier und Wein wie ein Rettungsanker vorkamen.

Anfang der 80er Jahre war Eleonore dann auch noch berufstätig. Der Haushalt litt darunter. Ich war ein hohes Maß an Ordnung gewohnt. Als ich Kind war, hatte alles seinen Platz: Mein Vater war blind und musste die Sachen finden können, ohne hinsehen zu können. Also stand jeder Stuhl genau dort, wo er hingehörte. Keine Blumenvase stand an einer unvorhersehbaren Stelle, sie wäre zwangsläufig von meinem Vater umgeworfen worden. Mein Vater konnte daher mit schlafwandlerischer Sicherheit irgendwo hingreifen, er fand, was er brauchte: da stand sein Zigarrenkistchen, er nahm sich eine Zigarre, der Griff ging zum bereitstehenden Zigarrenabschneider. Das abgeschittene Stück wurde in den Aschenbecher gelegt, der auf seinem Platz stand, der Griff zum Streichholzschachtelhalter, all dies funktionierte.

So war ich groß geworden. Sicher war das für den Haushalt eines Nichtblinden über-trieben. Aber Eleonore hatte nicht nur kein Verständnis für meine diesbezüglichen Bedürfnisse, es schien mir vielmehr, als mache es ihr eine diebische Freude, die Dinge jeden Tag woanders abzulegen, zu „verstecken“, wie ich es empfand. Und wenn ich von der Schule kam und für mich und die Kinder etwas kochen wollte, waren plötzlich Töpfe, Dosenöffner, Kochlöffel, Gasanzünder nicht mehr auffindbar. Meine Lösung hieß: Alt-Auheim.

Der Tagesablauf war jetzt so: Morgens aufstehen, Körperpflege, Kinder anziehen. Eleonore war schon um 6.30 h aus dem Haus. Ich brachte die Kinder mit dem Auto zum Kindergarten, wo sie pünktlich zur Öffnungszeit um 7.00 h waren, ich fuhr von dort aus weiter zur Schule, Ankunft 7.25 h, Unterrichtsbeginn 7.40 h. Die ersten zwei Schul-stunden waren die schwersten. Mein Kopf war alkoholbenebelt und schmerzend - Übel-keit, schlechtes Gewissen wegen unvollständiger Unterrichtsvorbereitung. Während der ersten Doppelstunde gab ich den SchülerInnen irgendwann eine Aufgabe, ich musste erst einmal zur Toilette, mich übergeben.

Danach ging es besser, bis zur ersten Pause war ich wieder fit. Der übrige Unterricht lief ordentlich. Ich schien die ersten zwei Unterrichtsstunden morgens zur Ernüchterung zu brauchen – an Wochenenden hingegen fehlte mir das und daher war mindestens der ganze Vormittag kaputt.

Nach der Schule war es an der Zeit, die Kinder vom Kindergarten abzuholen. Nach Hause zu gehen hatte keinen Sinn, dort regierte – so empfand ich es - das Chaos, also ins Alt-Auheim – und zwar mit den Mädels, dort gemeinsames Mittagessen. Danach habe ich mit den Kindern Karten gespielt. Irgendwann wollen die Kinder in den Spieleraum des Alt-Auheim zum Flipper oder zum Billard oder auch zu einem dieser neuartigen Videospiele. Ich nutze die Zeit, Klassenarbeiten zu korrigieren, hatte ja noch nicht allzu viel getrunken.

Später gehe ich zu den Kindern, wir spielen etwas im Spieleraum, oder sitzen am Kneipentisch und spielen Karten. Mitunter malen die Mädels auch etwas oder ich erzähle ihnen Geschichten von „Silvester Sansibar mit seiner Seemanns-Jacke“, Geschichten, die ich mir selbst ausgedacht hatte. Mitunter erzählte auch Kohlrübchen ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Steffi eine diese Geschichten.

Inzwischen sprach ich mit meiner üblichen Beständigkeit dem Bier oder dem Wein zu. Gegen 18.30 h gab es Abendessen – selbstverständlich im Alt Auheim. Zwischen 20 und 21 h kam Eleonore von der Arbeit und holte die Kinder ab. Ich zog jetzt vom Esstisch an den Tresen um. Um 1 h machte Helmut das Alt-Auheim zu, um halb zwei Uhr werde ich ins Bett sinken und wie ein bewusstloser bis 6 h schlafen, dann wird ein genauso trostloser neuer Tag auf mich warten – und Kopfschmerzen, wenn ich wieder einmal vergessen habe gleich beim Zubettgehen noch zwei Paracetamol zu schlucken.

Eleonore hat mir einmal vorgeworfen innerhalb von drei Jahren 100.000 DM ins Alt Auheim getragen zu haben, was etwas mehr als mein Nettoverdienst in dieser Zeit war. Ich habe nachgerechnet und muss zugeben, dass das stimmt. Meine Mutter hatte einige Ersparnisse für ihre alten Tage – ich habe sie alle versoffen.

Naja, der Helmut, der Kneipier, wollte schließlich auch leben.

Ach: wie ich da wieder rausgekommen bin? - Die Antwort steht in der Szene 016 „oder vielleicht grün?“


Zurück zu  Der verschlungene Pfad in Richtung eines Lebens zum Wohl aller Wesen.
Zurück zur Heimatseite